Jelzin - ein Kandidat zum Anfassen

Am Wahlmorgen um acht Uhr empfängt Boris Nikolajewitsch seine vier Frühstücksgäste nicht nur mit geradezu symbolträchtig weißer Weste, darunter trägt er auch noch ein blütenweißes Hemd. Die dunkelblaue Trainingshose wird von einer schmucken Hammer-und-Sichel-Borte geziert. Naina Jossifowna Jelzina nimmt derweil mit ungeheuchelter freudiger Überraschung den roten Nelkenstrauß entgegen, den ihr der junge Fotograf aus unserer Gruppe überreicht.

Von der Wand gegenüber der Eingangstür der geräumigen Neubauwohnung im Moskauer Frunse-Bezirk blickt ein ausgestopftes Elchenhaupt herab, ansonsten sind die Räume erfrischend frei von jenem barocken Trödel, mit dem moderne Sowjetbürger so gern das Neubauhome in ihr castle verwandeln. Bei den Jelzins haben die Möbel einfache, klare Linien, die Tapeten sind hell und zartgemustert. Bis auf die Korridore stehen die Bücherregale, in denen sich ganze Reihen voll mit den Literaturzeitschriften 'Novyi Mir‘ und 'Druschba Narodov‘ finden.

„Eigentlich sind das meine“, erklärt Jelzins Tochter Tatjana, eine Ingenieurin, der der Schalk im Nacken sitzt. „Aber Vater reißt sich sowieso alles Lesbare unter den Nagel, was ins Haus kommt.“ Tatjana teilt die Wohnung mit den Eltern und ihrem Sohn Boris.„Wir haben wie ganz normale Leute gelebt“, erzählt Boris senior, „bis ich anfing, auf allerlei Privilegien zu verzichten. Auf den Reparatur- und Handwerkerdienst für die Mitglieder der Nomenklatura, auf eine Reihe von medizinischen Einrichtungen.“ Seitdem fühle er sich gesünder denn je. „Und jetzt sagen sie, daß ich mir damit nur billig Autorität ver schaffen wollte.“

Das Frühstück in der Küche ist bester Wohngemeinschaftsstandard. Auf dem rotweiß karierten Wachstuch stehen Haferflockenbrei, Quark und Spiegeleier. Interessiert betrachtet Jelzin eine Nummer der taz und bringt sie irgendwie mit den Grünen in Verbindung. „Die haben mir damals ganz schön zu schaffen gemacht“, sagt er lachend, „als ich während der Tschernobyl-katastorphe gerade in der Bundesrepublik war. Da habe ich an einem Tag 33 Interviews gegeben.“ AKWs hält Jelzin trotz Tschernobyl für derzeit unverzichtbar (siehe Kasten). „Immerhin fordere ich“ - und bei diesen Worten läßt Boris Nikolajewitsch seine türkisgrünen Katzenaugen bedeutungsvoll aufblitzen „ein Gesetz, nach dem Unternehmen und Organisationen für ökologische Sünden strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.“

Als sich Jelzin eine halbe Stunde später - nunmehr in einem feinen grauen Tuchanzug - auf den Weg zum Wahllokal macht, haben seine Vertrauensleute schon seit dreieinhalb Stunden die Wahlvorbereitungen überwacht, um auch jeden möglichen Versuch von Fälschungen zu verhindern. Begleitet wird der Kandidat von der vollständig versammelten Familie. Ein unverkrampft sportliches Team, für das jeder westliche Wahlkampfmanager dem Himmel danken würde. Bereitwillig geben auch die Enkel Auskunft. „Spielt Opa oft Tennis?“ - „Ja, sehr oft.“ - „Arbeitet Opa abends noch zu Hause?“ - „Er liest bloß und sieht fern. Arbeiten tut er an den Wochenenden auf der Datscha.“ Eine Enkelin hält den Augenblick für günstig, den Erwachsenen der Familie zu gestehen, daß sie schon eine ganze Woche lang eine weiße Maus in der Wohnung ver steckt hält.

Vor dem Wahllokal erwartet Jelzin schon ein Pulk internationaler Journalisten. Zuvor hatte er noch geäußert, er wolle kein öffentliches Aufsehen bei seiner Stimmabgabe, aber jetzt gibt er bereitwillig Interviews. Trotz des Gewühls ist er für jeden leicht zu orten, auch den längsten Journalisten überragt er um einen Kopf. Jelzin ist ein Mann zum Anfassen und zum Diskutieren - der sich auch dann nicht windet und versteckt, wenn er auf eine Frage noch keine fertige Antwort weiß.

Unter den Besuchern des Wahllokals steht eine junge Frau mit großen glänzenden Augen. Sie hat ihren Job als Sekretärin in Leningrad spontan aufgegeben, um Jelzin als Wahlhelferin zu unterstützen: „Das Volk braucht Boris Nikolajewitsch“, sagt sie etwas pathetisch. „Nur wenn er gewinnt, hat das Leben für uns in diesem Land noch einen Sinn.“

„Eigentlich ist auch das hier ein Überbleibsel aus der Stagnationszeit“, orakelt Jelzin, als er die beiden Stimmzettel in die Urne wirft. Er sagt nicht, ob er das Wahlgesetz meint, das er „undemokratisch“ nennt, oder einfach die Situation, daß er bei seiner Stimmabgabe von rund 50 Kameraleuten und Fotografen umringt ist. Er habe heute dasselbe erzählt wie in den letzten Tagen auch schon“, tröstet ein US-Reporter einen zu spät gekommenen Kollegen. „But it's extremly interesting to see the man in action.“

Barbara Kerneck, Moskau