: Boris Jelzin triumphiert in Moskau
89 Prozent stimmten bei den Wahlen in Moskau für den radikalen Reformer Jelzin / Die Sowjetunion bekommt erstmals in ihrer Geschichte ein weitgehend demokratisch legitimiertes Berufsparlament / Böse Überraschungen für Parteihonoratioren im Baltikum ■ Von Mathias Geis
Berlin (taz) - Mit Boris Jelzin hat die am Sonntag in der Sowjetunion abgehaltene Wahl zum „Kongreß der Volksdeputierten“ ihren strahlenden Sieger. Der ehemalige Moskauer Parteichef konnte 89 Prozent der sechs Millionen Wähler im prestigeträchtigen Wahlkreis Moskau 1 hinter sich bringen. Jelzin, der wegen seiner radikalen Reformvorstellungen im Dauerstreit mit dem Partei -Establishment liegt, war von der Parteibürokratie in den letzten Wochen immer wieder attackiert und in einer regelrechten Kampagne diffamiert worden. Das hatte zu mehreren Massenkundgebungen euphorischer Jelzin-Anhänger geführt. Das überwältigende Moskauer Wahlergebnis dürfte den 1987 aus Politbüro und Moskauer Parteiführung entfernten Politiker ein gutes Stück näher an seine Rehabiltierung herangebracht haben. Jelzin konnte sich gegen den offiziellen Parteikandidaten Jewgeni Brakow, Direktor der ZIL-Autowerke, durchsetzen, der als gemäßigter Reformer gilt.
Auch in anderen Landesteilen mußten Vertreter des Parteiapparates empfindliche Niederlagen hinnehmen. In Litauen scheiterten sowohl der Ministerpräsident Vytautaus Sakalauskas als auch Parlamentspräsident Astrauskas am Wählervotum. Demgegenüber konnten sich die Kandidaten der litauischen Volksfront fast ausnahmslos durchsetzen. Fortsetzung auf Seite 2
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In Lettland scheiterte Regierungschef Edwins Bressis am Wählervotum. Der lettische Parteichef Vagris entging knapp einer Niederlage. In Estland konnte sich das als fortschrittlich eingeschätzte Führungstrio der Partei durchsetzen. Die Wahlen zum neuen Kongress werden als historisches Ereignis gewertet, weil erstmals in der Geschichte der UdSSR alternative Kandidaten um je eines der insgesamt 2.250 Mandate kämpften.
Somit kann die Wahl, deren Beteiligung nach offiziellen Angaben bei etwa 80 Prozent lag, erstmals als Stimmungsbarometer gewertet werden. Gorbatschow zeigte sich bei seiner Stimmabgabe zufrieden mit der Demokratisierung der Parlamentswahlen und forderte eine noch energischere Durchsetzung der Reformpolitik. Zudem versprach er für zukünftige Wahlgänge eine weitere Verbesserung der Wahlrechtsord
nung. Denn Gorbatschow und 749 andere Prominente mußten sich nicht dem Bürgervotum aussetzen, sondern wurden direkt von sogenannten „gesellschaftlichen Organisationen“ in den Kongress nominiert.
Der Volksdeputiertenkongress, dessen Zusammensetzung erst nach Auszählung aller Stimmen in etwa zehn Tagen bekannt gegeben wird, soll sich im April konstituieren. Er stellt laut neuer Verfassung das „höchste Machtorgan des Staates“ dar und wählt neben dem Präsidenten aus seiner Mitte die 542 Mitglieder des Obersten Sowjet. Entgegen der bisherigen Praxis wird diese Volksvertretung als echtes Berufsparlament ständig tagen. Die Ende letzten Jahres beschlossene Verfassungsreform sieht eine Stärkung des Parlaments gegenüber der Partei und der Exekutiuve vor. Zwar sprach sich Gorbatschow am Wahltag erneut gegen ein Mehrparteiensystem aus, doch hat sich das Meinungsspektrum innerhalb der Partei während des Wahlkampfs als derart
differenziert erwiesen, daß heute von einem begrenzten Pluralismus gesprochen werden kann.
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