: 1990: Wer Kohl wählt, wählt neue Raketen
Kanzler Kohl verspricht den USA und Großbritannien die Stationierung neuer atomarer Kurzstreckenraketen bei seiner Wiederwahl im Dezember 1990 ■ Aus Genf Andreas Zumach
Bundeskanzler Kohl hat den Regierungen der USA und Großbritanniens für den Fall seiner Wiederwahl die Zustimmung Bonns zur Stationierung neuer atomarer Kurzstreckenraketen versprochen. Im Gegenzug verzichten Präsident Bush und Premierministerin Thatcher auf die bislang verlangte ausdrückliche Stationierungsentscheidung beim kommenden Nato-Gipfeltreffen am 29./30.Mai in Brüssel und geben sich mit einer unterstützenden Erklärung für die weitere Entwicklung der Lance-Nachfolgerakete zufrieden. Das ist der Kern des am Osterwochenende im Brüsseler Nato -Hauptquartier bekanntgewordenen „Kompromisses“ in der „Modernisierungsfrage.“
Noch im Februar hatte Kohl erklärt, daß „die wirkliche Entscheidung über die Produktion (neuer Raketen) 1991/92 fallen“ wird, also nach den Bundestagswahlen im Dezember 1990. Die Entscheidung vom Wochenende widerspricht damit den Kanzlerworten diametral.
Die Regierung Kohl sieht weiterhin davon ab, als Voraussetzung für die Ausrüstung US-amerikanischer Kampfflugzeuge in der Bundesrepublik mit neuen, weitreichenden atomaren Abstandswaffen zur Ersetzung der wegverhandelten Pershing II und Cruise-Missiles eine Zustimmung der Nato zu verlangen. Mit den Entscheidungen vom Wochenende haben sich innerhalb der Bush-Administration diejenigen Kräfte um Außenminister Baker durchgesetzt, denen eine Gefährdung Kohls durch einen Raketenwahlkampf und ihre Ablösung durch eine womöglich rot-grüne Koalition als größeres Übel im Vergleich zu einer Verschiebung der Stationierungsentscheidung auf einen Zeitpunkt nach 1990 erscheint. Das Pentagon hatte, nicht zuletzt unter Hinweis auf entsprechende Forderungen aus dem Kongreß, bislang auf einen Stationierungsbeschluß beim Nato-Gipfel im Mai gedrängt. Die Bush-Administration hofft nun, mit einem Votum des Nato-Gipfels für die Entwicklung der Lance -Nachfolgeraketen sowie Kohls Zusage für eine Bonner Stationierungszustimmung spätestens 1992 in der Hand den US -Kongreß zur Bewilligung der Haushaltsgelder für die jetzt anstehende zweite Entwicklungsphase der neuen Atomwaffe bewegen zu können. In dieser Phase sind der Bau von Prototypen sowie die Tests der Lance-Nachfolgerakete vorgesehen. Vor der Bewilligung von Geldern für die laut Pentagon-Planung ab 1992 vorgesehene Serienproduktion müßte die Nato dann ihren Stationierungsbeschluß treffen. Auf diese Weise wäre die Dislozierung der neuen Kurzstreckenraketen in der Bundesrepublik und anderen Staaten wie vorgesehen ab 1994/95 sichergestellt.
Innerhalb der Bundesregierung hat Kohl sich mit diesem „Kompromiß“ gegen Außenminister Genscher durchgesetzt, der jeglichen Nato-Beschluß zum jetzigen Zeitpunkt abgelehnt hatte. Die Nato behält sich vor, den Abzug der 572 landgestützten Pershing II und Fortsetzung auf Seite 2
Cruise-Missiles als Folge des INF-Vertrags sowie die ohnehin stattfindende Ausmusterung von rund 1.100 alten Atomwaffen (vornehmlich Artillerie) in Westeuropa als „einseitigen Abrüstungsschritt“ zu verkünden, um so die Akzeptanz für die neuen Atomwaffen zu erhöhen. Ob dies bereits auf dem Nato -Gipfel im Mai dieses Jahres, kurz vor den bundesdeutschen Wahlen 1990 oder erst im Zusammenhang mit dem danach zu treffenden Stationierungsbeschluß geschieht, ist noch nicht entschieden. Der jetzt ausgehandelte „Kompromiß“ über die knapp 500 Kilometer weit schießende Lance-Nachfolgerakete betrifft nur den Teil der umfangreichen „Modernisierung“ des atomaren Nato-Arsenals in Westeuropa, auf den sich bislang die öffentliche Kontroverse konzentriert hat. Weitgehend unbe
achtet ist die laufende Vorbereitung zur Bestückung US -amerikanischer Kampfflugzeuge in der Bundesrepuiblik Deutschland und Großbritannien mit Abstandswaffen. Entsprechende Systeme mit Reichweiten zwischen 250 und 1.500 Kilometern werden derzeit entwickelt und sollen ab Anfang der 90er Jahre auf F-15 E und andere Flugzeuge montiert werden. US-Luftwaffengeneral Ronald Yates bestätigte bei einer von dem Kongreßangehörigen Ron Dellums geleiteten geheimen Anhörung Anfang März ausdrücklich, daß mit diesen Waffen die militärischen Optionen der unter dem INF-Vertrag wegfallenden Pershing II und Cruise-Missiles gegen sowjetisches Territorium wiedererlangt werden sollen.
Die USA vertreten die bislang von der Regierung Kohl und den anderen Bündnispartnern unangefochtene Position, daß eine Ausrüstung von US-Flugzeugen mit diesen neuen Abstandswaffen allein in die Zuständigkeit der USA fällt und keines Nato-Beschlusses bedarf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen