Insgesamt Fragment

■ Der Komponist Konrad Boehmer zum Tode von Carl Dahlhaus

Vor zwei Wochen starb nach langer Krankheit der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus. Dahlhaus war in der engen Welt der Musikwissenschaft und der neuen E-Musik sowohl theoretisch als auch politisch eine Institution, an der niemand vorbeikam. Theoretisch, weil er die deutschen Standardwerke über die Musikgeschichte und -ästhetik des 19. und 20.Jahrhunderts geschrieben hat und den Diskurs im ziemlich mediokren Umfeld der Musikologie souverän und unermüdlich schreibend regierte. Politisch, weil er sich nicht damit begnügte, seine Positionen als Professor an der Technischen Universität Berlin zu verfechten, sondern auch in zahlreichen Gremien, etwa dem Deutschen Musikrat, als Mitglied der Akademie der Wissenschaften, im Beirat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, als Mitherausgeber der wichtigsten Musikzeitschriften usw., in ihrem Sinne Einfluß nahm. Daß er ein wichtiger Mann war, zeigt sich schon an den Ehren, mit denen er in den letzten Jahren überschüttet wurde. Dahlhaus war Träger des Frankfurter Musikpreises 1987, des Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Mitglied im Orden pour le merite.d.Red.

„Man versteht Musik genauer“, so schrieb er vor 15 Jahren, „wenn man die Mühe nicht scheut, sich die Struktur der Sprache, in der über sie geredet wird, bewußt zu machen.“ Das klingt wie eine Kampfansage an Musikwissenschaft und Musikkritik zugleich, denen ja das Reden über die Sache mehr am Herzen liegt als die Sache selbst. Es klingt hier jedoch auch Zweifel am eigenen Tun durch, hat doch Carl Dahlhaus, fruchtbarer als all seine Musik zur Sprache bringenden Zeitgenossen, kaum ein Thema unberührt gelassen, welches die Musikgeschichte oder das aktuelle Musikleben ins Blickfeld brachte.

In die herkömmliche Musikwissenschaft, der die Fußnoten noch lieber sind als der Text, hat er eine Schneise geschlagen. Das geistlose Herumstarren auf die Noten war ihm zuwider. In einer Epoche, in welcher musikalische Ästhetik der „trivialen“ wie der avancierten Kunstmusik gleichermaßen suspekt zu sein scheint, hat er deren Wiederherstellung versucht und wurde darin zum radikalen Konservativen. Er, der Historiker von Kopf bis Fuß, hat sich jedoch zeitlebens der Einsicht verschlossen, daß ästhetische Vorstellungen selbst nur geschichtlich Bedingtes sind, daß sie noch nicht einmal innerhalb ihrer Epoche von umfassender Gültigkeit sind.

Die Schneise, die er ins Reden über Musik schlug, hat er so heftig zu durchschreiten versucht, als hoffte er, an ihrem Ende fielen Musik und deren vielfältige sprachliche Erklärungsversuche vielleicht doch einmal zusammen. Er hat jenes Ende nicht mehr sehen können, und so ist ihm die bittere Einsicht erspart geblieben, daß es dieses Ende, diese Synthese, nicht gibt und auch nicht geben kann. Als hätte er noch einmal einen wollen, „was die Mode streng geteilt“. Es wäre dies nur nöglich gewesen, wenn die „Mode“ sich dem geöffnet hätte.

Sie tat es nicht. Niemals hören die Ereignisse auf die Geschichte. Es ist das Los des Historikers - und ganz gewiß des Ästhetikers -, daß die Ereignisse blind in die Welt treten und daß keine Kunst, keine Musik von Rang, sich an ästhetischen Prämissen reibt, die vor ihr formuliert wurden. Daran hat Dahlhaus sich zeitlebens gestoßen. Sein weiter Blick auf die Geschichte der westlichen Kunstmusik schien ihm Garant für ein Verständnis auch der unerwartetsten künstlerischen Grillen oder Funde. Von seiner Warte aus hat Dahlhaus oftmals in den Entwicklungsprozeß avancierter Kunstmusik einzugreifen versucht. Er tat es mit Intelligenz, profunder Kenntnis der Sachverhalte und Engagement.

Allein: Wo immer er sich zu Fragen der Kompositionsmethode oder der Form neuer Musik äußerte, geschah es ihm, daß die komponierenden Zuhörer auch danach weiterbastelten und sein Vortrag im besten Falle ein Jahr später als gedruckter Kongreß-Beitrag erschien. Es ist dies nicht nur tragisch für die musikalische Situation als solche, es war auch tragisch für Dahlhaus selbst, der empfindlich genug war, einzusehen, daß sich Ästhetik und kompositorische Praxis auf unabsehbare Zeit voneinander getrennt haben. Nachdem Dahlhaus 1967 als Ordinarius für Musikwissenschaft an die Technische Universität Berlin berufen wurde, nachdem er beabsichtigte, dort seine theoretischen Einsichten voll zur Entfaltung zu bringen, sah er sich mit einer neuen Unmöglichkeit konfrontiert, die seinen Glauben an eine kontinuierliche Entwicklung der Kunstmusik erneut erschütterte.

Der Aufstand der damaligen Studentengeneration machte auch vor der Musik und ihrer Wissenschaft nicht halt. Die Forderung nach einer „engagierten“, politisch-funktionalen Musik, deren ästhetische Grundlagen sich fortschrittlich -politischen Zielsetzungen unterordnen sollten, war Dahlhaus ein Greuel. Das Ganze roch ihm zu sehr nach Faschismus, dessen falsche Politisierung der Kunst Dahlhaus in seiner Jugend noch miterlebt hatte. In damals eiligst verfaßten Thesen zur engagierten Musik verwarf er jeglichen Anklang an soziale Realität als Banalisierung der Musik und zog sich erneut in die Festung der „absoluten“ Musik zurück, wohl wissend, daß diese Maxime schon damals selbst auf die „ernste“ Musik nicht mehr anzuwenden war.

Es war dies Dahlhaus‘ letzter Versuch, die Zeiten zu kehren. Den Fürsprechern einer „engagierten“ Musik hielt er 1964 entgegen: „Die moralisierende Ästhetik, von deren Erbschaft die politisierende zehrt, ist schlechtes 19. Jahrhundert.“ Doch sah er ein, daß selbst bei avanciertester Musik die Rede nur von „relativer Autonomie“ sein könne und daß sie vieleicht „mittelbare Relevanz“ haben könne. Und da

-etwa seit Beginn der siebziger Jahre - auch die Zeiten für die ehemals Neue Musik sich wendeten und diese auf die Suche nach den Reizen der alten sich begab, geriet Dahlhaus vollends zwischen die Fronten: bis zur Selbstverleugnung. „Neue Musik, der es gelingt“, so argumentiert er, „ein Stück Popularität zu erreichen, setzt sich fast immer dem Verdacht aus, daß sie damit aufhöre, Neue Musik im emphatischen Sinne zu sein. Die Melancholie, die aus Isolierung erwächst, schlägt um in Hochmut. Zweiffellos ist es manchmal angemessen, von falscher oder erschlichener Popularität zu sprechen; die Automatik aber, mit der sich der Vorwurf einstellt, macht stutzig. Und es scheint, als beruhe sie auf der Maxime, daß in einer falsch eingerichteten Gesellschaft jede Anstrengung, sich sozial zu behaupten, zu sachlichem Scheitern verurteilt ist.“

Diese Sätze waren gegen jene Kulturkritiker (und insbesondere gegen Adorno) gerichtet, die die gesellschaftliche Isolation der „hermetischen“ Neuen Musik als einzigen Garanten für ihre Integrität jener „falsch eingerichteten Gesellschaft“ gegenüber sahen. Nur: Was wäre denn dann „falsche oder erschlichene Popularität“? Das zu ermessen, dazu fehlten auch dem Ästhetiker Dahlhaus die Maßstäbe. Die radikale Konsequenz Adornos, der „authentische“ Musik insgesamt in den Ozean des Vergessens hineingeworfen sah, wollte Dahlhaus nicht ziehen.

Daß neueste Musik bei ihrer Rückkehr in die Gesellschaft einen Kompromiß nach dem anderen schloß und unablässig zur Restauration des überkommenen bürgerlichen Musiklebens beitrug, all das hat Dahlhaus mit zwiespältigen Gefühlen beobachtet. Da vollzog sich ein schleichender Prozeß, in welchem keine deutlichen Fronten und keine ästhetischen Auffassungen hervortraten, die auch nur irgendwie von Interesse gewesen wären. Dahlhaus hat dieser Restauration, die er weder lenken noch aufhalten konnte, mit zunehmendem Aktivismus zu entgehen versucht. In den siebziger Jahren schien es, als ob er durch die Medien und Institutionen neuer Musik eile, um in die Breite zu säen, was Neue Musik selbst nicht in die Tiefe zu säen vermocht hatte. Er zeichnete als Redakteur, als Herausgeber von Zeitschriften und Editionen Neuer Musik, er schrieb und schrieb und referierte auf Symposien und Kongressen. Die vielen Bücher umkreisen alle dieselbe bange Frage, wie denn Geschichtsschreibung und Musiktheorie zur und in der Geschichte selbst stehen, die blind weiterzieht.

Er hat sich in dieser Frage „unmittelbar betroffen“ gefühlt, nicht zuletzt, weil er auch im eigenen Fach „eine Unlust an Geschichte, eine argwöhnische Gereiztheit gegenüber der Tradition“ heraufziehen fühlte. Bei den jüngeren Kollegen - sicher bei denen, die selbst ein Produkt der heftigen sechziger Jahre waren - vermutete er, die „Autorität des Werkes“ sei ihnen „verdächtig“, sie hielten sie für „ein Zeichen 'falschen Bewußtseins'“. Der Einsicht, daß gerade hierin unwiderruflich Geschichte sich vollzieht, hat er sich versperrt. Zu sehr war ihm Geschichte als Geschehenes Norm für das Aktuelle, und er hat sich heftig dagegen gewehrt, daß man dem Historiker, der sich die Werte der europäischen Kunstmusik der Neuzeit zum Maßstab macht, „Provinzialismus vorwerfe“.

Das war nicht zuletzt auch gegen seine eigenen Studenten gerichtet, die in seinen Augen das Unmögliche versuchten, nämlich Geschichtsbewußtsein ohne Geschichte zu entfalten. So klar es dem Historiker war, daß viel Musik außerhalb des Begriffs des „Kunstwerks“ angesiedelt ist, so suspekt waren ihm Bemühungen seiner eigenen Schüler, gerade diese Musik zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen. Denn in der heiligen Überzeugung, daß Musikgeschichte sich nur in den musikalischen Kunstwerken vollziehe, war er ganz ein Mann des 19.Jahrhunderts. Mit diesem verbindet ihn auch der Name eines Mannes, den er zwar niemals öffentlich als sein Vorbild bezeichnet hat, den er jedoch an Vielseitigkeit und Produktivität noch zu übertreffen sich bemühte: der Musiktheoretiker und Historiker Hugo Riemann (1849-1919). Der hatte 1873 formuliert, was Dahlhaus in seiner Zeit im Schwinden sah: eine „musikalische Logik“. Es ist Dahlhaus‘ Tragik gewesen, daß solche Logik sich trotz all seiner Bemühungen nicht hat wiederherstellen lassen. Vielleicht weil Geschichte - und auch Musikgeschichte - keiner Logik sich fügen will und „musikalische Logik“ immer nur die des Gewesenen ist. Dahlhaus‘ imposante Veröffentlichungen sind Fragment geblieben. Fragment aber ist Neue Musik insgesamt. In diese Einsicht hätten Musik und das Sprechen über Musik sich am Grabe eines bedeutenden Theoretikers musikalischer Unmöglichkeiten zu fügen.