Polnischer Cocktail

■ Wagners „Ring“ erstmals in Polen

Frieder Reininghaus

Kurz vor dem 50. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf Polen wurde - im Rahmen der Tage des Teatr Wielki - in Warschau zum ersten Mal Richard Wagners Ring der Nibelungen gespielt: komplett (ohne Kürzungen und Retuschen), kompakt und auf deutsch. Das war eine demonstrative Geste in mehrere Richtungen. Zwar hatte es vor dem Ersten Weltkrieg Wagner-Aufführungen in Lemberg gegeben (das war damals noch österreichisch), zwischen den Kriegen einzelneRing-Teile in Warschau. Nach 1945 aber war solche Kunst auf den aus Ruinen auferstehenden Bühnen Polens undenkbar: Zu sehr hatte Hitlerdeutschland sich der Wagnerschen Musik bedient, als daß es ihr gegenüber Unbefangenheit oder gar öffentliche Sympathie hätte geben können.

Robert Satanowski, inzwischen Generalintendant und Generaldirektor des Großen Theaters in Warschau, unternahm schon vor zwei Jahrzehnten tastende Versuche im Provinztheater von Poznan - mit dem politisch sehr viel weniger brisanten Tristan und mit Tannhäuser. Jetzt hat der 71jährige Chefdirigent des Teatr Wielki seine Laufbahn mit dem musikdramatischen Schlüsselwerk des 19. Jahrhunderts gekrönt: Eine Götterdämmerung nicht ohne makabre Züge vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Debakels im Land.

Allen technischen, finanziellen und ideologischen Schwierigkeiten zum Trotz wurde das ehrgeizige Projekt verwirklicht. Denn für Musik von diesem Schwierigkeitsgrad ist das Polnische Staatsorchester nicht trainiert - aber es kann durch die besondere Anstrengung Anschluß finden an das internationale Spitzenniveau. Auch die Tradition des Wagner -Singens, für welche die polnischen Solisten vor 1939 weltweit berühmt waren, soll nach dem Willen des Generalmusikmeisters reaktiviert werden. Die kleineren Partien besetzte Satanowski konsequent mit Sängern aus dem eigenen Haus oder den umliegenden Stadttheatern; für Wotan, Brünnhilde und Siegfried mußten auf dem westlichen Markt teure Stimmen gekauft werden. Devisen aber sind in Polen derzeit so knapp wie noch nie. Man hat sich die Demonstration, daß Polen ein mitteleuropäisches Land ist mit einer sich zum Westen öffnenden Kultur, sehr viel kosten lassen.

Daß die Vorbehalte gegen Wagner in der polnischen Gesellschaft nicht verschwunden sind, wußte Robert Satanowski. „Ich kümmere mich nicht um Ressentiments“, sagte er gelassen zu den ausländischen Journalisten. Er, der zu den Verfolgten des Naziterrors zählt, betont: „Ich empfinde die Partitur desRings als wunderbar und den Inhalt als großartig. Wagner ist ja nicht verantwortlich für alles, was man mit ihm und seiner Musik getrieben hat.“ Auch die Verstrickung Wagners in den deutschen Chauvinismus und seine antisemitischen Bosheiten schiebt er in der Diskussion beiseite. „Er war ein genialer Mann, ein großer Komponist und das ist das Entscheidende. Die tiefe Idee des Rings aber kommt für mich nur zum Vorschein, wenn sie allgemein ist, wenn man das Werk nicht auf eine bestimmte Epoche oder eine bestimmte Situation bezieht. Kein politischer Ring, bitte! Ich möchte hier in Warschau keine Reichskanzlei haben - und auch nicht Chile. In Polen hat man eine ganz andere Einstellung zur Frage politischer Aufführungen.“

An politischen Inszenierungen haben die Leute in Warschau in den letzten Jahrzehnten wohl so viel durch die Realität des Alltags abbekommen, daß der Absichtserklärung des Direktors und Dirigenten kaum zu widersprechen ist. Geht man auch nur die Hauptstraße Nowy Swiat entlang, so klagen rechts und links die steinernen Tafeln die Greueltaten der Vätergeneration an. In Warschau können wohl nicht einmal Verdrängungskünstler die auch nach mehr als vier Jahrzehnten gebliebenen Spuren der Verwüstung übersehen und die Schatten der Vergangenheit einfach überspringen. Doch die Mehrheit der Gesprächspartner klagt über die sichtbaren Zeichen des stalinistischen Erbes, spricht vom Ende der brüderlichen Umklammerung. Der deutsche Ring, inszeniert von einem international renommierten deutschen Regisseur, wird als künstlerischer Akt mit hohem Symbolwert betrachtet: als eine weitere Geste des Brückenschlags.

An die Vorgabe, daß die Inszenierung allgemein, unbestimmt und unpolitisch gehalten sein möge, hatten sich August Everding und sein Bühnenbildner Günther Schneider-Siemssen zunächst zu halten. Sie nahmen die Szenenanweisungen Wagners sehr wörtlich, zeigten die Felsen am Grunde des Rheins und Bergklüfte in biederstem Stadttheaterrealismus, tolpatischige Riesen mit ungehobelten Meßlatten und einen abgestorbenen Wald an Fafners Neidhöhle. Hundings Wurzelhelm mutete wie aus germanischer Vorzeit an; Mimes Schmiede hingegen verwies auf die früheste Industrieepoche, das Bergwerk Nibelheim auf das 19. Jahrhundert. Gunthers Schloß zu Gibichhausen glich einer anthroposophisch inspirierten Leichenhalle der zwanziger Jahre (und schließlich liegen auch genug Tote darin); die große Treppe am Rhein gemahnte an die sowjetische Kolossalarchitektur (auf ihr tummelten sich Hagens Mannen - halb als bewaffnete Arbeiter, halb in SS-Mänteln); der Rhein schlängelte sich, wie vom Heimatmaler detailliert gepinselt, im Hintergrund (so malte der junge Adolf H.). Aber das war weder ironisch noch kritisch gemeint: Die verschiedenartigen Bildebenen und Dekorationsmischungen sollten es wohl einfach möglichst vielen Geschmäckern recht machen. Hochartifizieller Lichteinsatz sorgte für Himmel- und Wasserbilder in allen Farbschattierungen. Auch die Nebelmaschine hatte reichlich zu tun. Aus den wabernden Schwaden erhoben sich die frostigen Gebilde der Walküren - Bergplateaus wie aufeinandergeschichtete Pizzaböden. Blanke Schwerter wurden gekreuzt, Streitaxt, Hämmer und Gewehre. Solches inkonsequentes Gemisch kehrte bei den Kostümen wieder: Bärenfell und Pickelhaube, Blaumann und Abendkleid. Alles mögliche - nur keine Linie.

Einige politische Akzente wurden der Götterdämmerung doch noch aufgesetzt. Die Truppe, die die falsche Ordnung aufrechterhält und den Meuchelmord am meineidigen Siegfried deckt, wurde optisch aus nazideutscher und sowjetischer Ausstattung collagiert. Die totalitären Parolen senkten sich vom Bühnenhimmel herab - und fielen kraftlos zu Boden, gingen im Inferno des Weltenbrands unter. Unpolitisch ist das nicht. Aber es traf, wie der gesteigerte Einsatz der Bühnenmaschinerie und die Melange der Bilder, auf den begeisterten Zuspruch der Warschauer. Die feierten auch das Durchbrechen eines Tabus: daß sie sich überhaupt solche opulente und musikalisch aufschäumende Kunst reinziehen konnten.

Orchester und Sänger haben mit den Tücken der Akustik im größten Theater der Welt zu kämpfen (das Teatr Wielki wurde in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in aberwitziger Dimension hinter dem alten Säuleneingang neu aufgebaut). Ein Mezzoforte des Wagner-Blechs deckt selbst ein Fortissimo der Streicher zu - und jeden auf der Brust schwachen Sänger. Hagen (Andrzej Saciuk) stand wie ein Fels in der Brandung der Tonwagen; Barbara Zargorzanka und Arley Reece ließen (als Sieglinde und Siegmund) den recht desolaten Rheingold-Auftakt in Vergessenheit geraten. Triumphal aber gerieten die Auftritte von Gudrun Volkert (Brünnhilde): ihre große Stimme, ihre imponierende Dynamik halfen über manche musikalische Hängepartie hinweg und brachte einen großen Bogen in dieWalküre und die Götterdämmerung. Doch weithin schien der Dirigent Satanowski zu sehr an den Details der Partitur zu kleben, konnte nicht einmal für präzise Einsätze und eine plausible Klangbalance sorgen: Vieles an diesem Riesenwerk hat die Kräfte überfordert. Was die musikalische Leitung der zentralen Institution des polnischen Muusiktheaters betrifft, so herrscht Götterdämmerung.

Im Studio von Polski Radio stehen CD-Player der neuesten Schweizer Baureihe neben atavistischem Gerät aus den Pionierjahren des Hörfunks. „Polnischer Cocktail“ nennt der Kollege diese Kombination. Auch die Ring-Produktion ist

-in der Ausstattung wie musikalisch - ein solcher Cocktail: Hochleistungen stehen neben provinziellem Gemurkel, Regiechic paart sich mit verstaubtem Biedersinn. Mit der „Entwicklungshilfe“, die durch Everding und Schneider -Siemssen kommen sollte, verhält es sich wie anderswo auch: Da wird der technische Stand von gestern exportiert und etlicher Schrott dazu. Die Richtung, in der man sich in Warschau kulturell angesichts der gegenwärtigen Dämmerung orientiert, ist eindeutig, aber zweischneidig. Der Ring, gewiß, war ein großes Symbol. Der Schlußsatz freilich war gestrichen: „Zurück vom Ring!“