„Wir wissen, daß Wei Jingsheng lebt“

Heute vor zehn Jahren wurde der chinesische Bürgerrechtler Wei Jingsheng verhaftet / Über das Schicksal des Journalisten gibt es nur Vermutungen / Appell von Intellektuellen für seine Freilassung blieb erfolglos  ■  Von Jürgen Kremb

Berlin (taz) - Die Volksrepublik China vor zehn Jahren: „Ist Deng Xiaoping des Volkes würdig?“ fragt das unabhängige Magazin 'tansuo‘ (Die Untersuchung). Chefredakteur Wei Jingsheng (32) reagiert damit auf eine geheime Rede des stellvertretenden Ministerpräsidenten Deng Xiaoping vom 16. März 1979, in der dieser dazu aufgefordert hatte, die vier Prinzipien der kommunistischen Partei Chinas zu befolgen. Für den Elektriker Wei - in den letzten Wochen zur herausragenden Figur der chinesischen demokratischen Bewegung geworden -, hat sich damit ihr heimlicher Mentor Deng wieder auf die Seite der Machthaber geschlagen. Als Begleiterscheinung eines Machtkampfes im Zentralkomitee zwischen den Emporkömmlingen aus der Kulturrevolution und den Wirtschaftspragmatikern hatte sich der Unmut des Volkes knapp zwei Jahre an der „Mauer der Demokratie“ in Beijing artikulieren können. Doch mit Weis letztem Heft war die Geduld der Führung erschöpft: Am 29. März 1979 wird Wei von der Sicherheitspolizei abgeführt. Wegen „konterrevolutionärer Tätigkeiten“ und „Weitergabe militärischer Geheimnisse“ wurde er am 16. Oktober 1979 zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt. Amnesty international adoptierte den Journalisten als Gewissensgefangenen. Doch internationale Appelle blieben ungehört. Der Häftling Wei, der nichts anderes gefordert hatte als die Reformer in der KPCh heute auch, verbrachte lange Zeit in einer Einzelzelle. Mehrmals trat er in den Hungerstreik. Wegen schizophrener Störungen soll er 1984 behandelt worden sein. Gerüchte besagen, daß er 1985 in ein Arbeitslager der Quinghai -Provinz verlegt worden sei. Zwei Jahre später verbreitete eine Nachrichtenagentur die Meldung, Wei sei gestorben. Doch ein Sprecher des Amtes für Arbeitsumerziehung dementiert: „Wir wissen zuverlässig, daß Wei Jingsheng noch lebt.“

Zu Beginn dieses Jahres haben sich chinesische Dissidenten, wie der Astrophysiker Fang Lizhi, der Autor Liu Binyan, die Schriftstellerin Zhang Jie und der Marxismusforscher Su Shaozhi für die Freilassung von Wei Jingsheng und allen politischen Gefangenen eingesetzt. Die offizielle Antwort an die Menschenrechtler: „In China werden Kriminelle nach dem Gesetz gerichtet, und dementsprechend sind einige Straftäter verurteilt worden.“ Auch Parteichef Zhao Ziyang verbat sich beim jüngsten Staatsbesuch von George Bush eine Diskussion über Menschenrechte. Die Dissidenten seien für den Reformprozeß schädlich: „Im günstigsten Fall bringen sie die Reform in Schwierigkeiten. Im schlimmsten Fall lassen sie die Reform scheitern.“