Weil der Krieg der Feind ist

■ „Raggedy Rawney“, das Regie-Debut des Schauspielers Bob Hoskins, drückt in Kinosessel und auf Rezensentenschultern / Anteilnahme statt Tränendrüsenkitzel

„Es gibt keinen Himmel für Soldaten, höchstens eine Hölle“, sagt ein älterer Krieger zu Beginn von Raggedy Rawney wenig später ist er tot. Zerrissen von einer Granate, denn es ist Krieg. Irgendwann am Anfang dieses Jahrhunderts siedelte Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller Bob Hoskins seine Fabel an, sie war ihm als kleinem Jungen erzählt worden.

Das Regiedebut des Schaupielers Hoskins (u.a. Mona Lisa, Rififi am Karfreitag) ist ein Film der Entwicklungen. Nichts bleibt, wie es ist. Die Veränderungen schaffen eine Dynamik bis zur Unerträglichkeit. Tom (Dexter Fletcher), ein junger Rekrut, entflieht den Schrecken des Krieges, er ist dem Wahnsinn nahe. Völlig überfordert und an den Grenzen seines Leistungsvermögens irrt er durch den Wald. Er stößt auf ein kleines Mädchen, das ihm in scheinbar kindlicher Manier ein anderes Aussehen gibt. Sie schminkt ihn bis zur Unkenntlichkeit und zieht ihm ein langes rotes Kleid an. Die Illusion ist perfekt. Aus dem Deserteur ist eine Frau geworden. In der nächsten Ein

stellung offenbart sich der grausame Hintergrund dieser Verkleidungssequenz. Die Familie des Mädchens liegt ermordet im Hof. Soldaten richteten das Massaker an, weil der Sohn desertierte.

Künstlich, fast theatral nähert sich Hoskins dem zentralen Punkt seines Werkes. Eine Gruppe von Fahrensleuten nimmt das merkwürdige Wesen im roten Kleid bei sich auf. Sie halten die vermeintliche Frau für eine „rawney“, eine verrückte Hexe mit übernatürlichen Kräften. Schmutzig und verlottert schweigt sich Tom durch die Zeit, immer auf der Hut vor den Häschern der Soldaten, die nach neuen Rekruten für die Schlachtfelder Ausschau halten. Mehr und mehr dringt die Kamera in die menschlichen Zusammenhänge der Sippe, im Film Zigeuner genannt. Da gibt es Simon, ein mongoloides nichteheliches Kind, Weasel (Ian Dury), den Taschendieb und Ellie, Simons Mutter. Sie alle vermögen nur im Zusammenwirken ihrer Fähigkeiten zu überleben, unter der martialischen Führung von Gruppenoberhaupt Darky (Bob Hoskins).

Immer weiter entfernt sich

Raggedy Rawney von den Greueln des Krieges. Die Gruppe findet Aufnahme in einer heruntergekommenen Farm, die sie instandsetzt und auch Tom vermag sich im Schatten des bunten Treibens zu regenerieren. Nicht plötzlich, sondern ganz allmählich findet er zurück zu seinen Empfindungen und Gefühlen. Jessie (Zoe Nathenson), die Tochter Darkys weiß um Toms Verkleidung und kommt ihm näher. Doch die fragilen Zeichen der Versöhnung und Harmonie trügen.

So komplex sich die Handlung dieses Kinowerkes darstellt, so dicht ist auch seine Atmosphäre, ja, Rührung macht sich breit. Wo soll das alles enden, wie kann es weitergehen? Es geht nicht weiter. Simon, der behinderte Junge, ertrinkt, Jessie erwartet ein Kind, das ihr gewaltsam abgetrieben wird und dann tauchen aus dem Nichts Heerscharen schwerbewaffneter Soldaten auf. Es wird viel geweint gegen Ende von Raggedy Rawney und wir in unseren Kinosesseln leiden mit. Es ist nicht alltäglich, daß ein Film Anteilnahme erzeugt, statt mit platten Metaphern auf die Tränendrü

sen zu drücken. „Wie lange, glaubst Du, können wir eine Armee aufhalten?“, ist einer der letzten Sätze im Angesicht der tödlichen Übermacht. Hoskins‘ Werk hat eine Antwort nicht nötig. Sie ist in unseren Köpfen.

Jürgen Francke

Schauburg, 23 Uhr (außer So.)