AN DER SCHMERZGRENZE

■ „R - wie Rosa“, ein Trauerspiel in fünf Akten

Ort der Handlung: Berlin, Mauer, Checkpoint Charly. Uhrzeit: Sonnenuntergang. Die gelben DDR-Grenz-Lampen werfen ihr bedrohliches Licht auf das Haus am Checkpoint Charly. Dieses jedoch trotzt der Gefahr mit einer ständigen Ausstellung über die Republikflucht und wie sie bewerkstelligt werden kann.

I.

Der Leiter des Haues am Checkpoint Charly, Rainer Hildebrandt, ist betrübt. Seit Berlin nicht mehr Frontstadt ist, sondern legale Drehscheibe zwischen Ost und West, droht seinem Hause Bedeutungsverlust. Wer glaubt schon an den fiesen real existierenden Sozialismus, der mit selbstgebastelten Flugapparaten überwunden werden muß, wenn jeder mit schwarz getauschtem Geld einen prima Tag in Ost -Berlin haben kann? Darum muß etwas geschehen mit dem Haus am Checkpoint Charly. Schon ist ein Kino installiert mit einem ständig gleichbleibenden Programm: Leisers „Mein Kampf“ und „Mit dem Ballon in den Westen“. Das ist aber noch nicht genug. Nicht nur lauert überall Entspannung, auch haben sich die Menschen an die Mauer gewöhnt. Was kann man da noch tun? Was? Ein Theater!

II.

Der Plan mit dem Theater ist gut, doch lauern überall Schwierigkeiten. Zwar gibt die deutsche Klassenlotterie Geld und Freunde Spenden. Aber kein geeignetes Drama ist in Sicht. Nichts, was der „Bedeutung des Ortes gerecht wird“. Dieser „manifestierten Weltgeschichte“. Kümmert sich kein Autor drum. Weil das so ist, muß es Rainer Hildebrandt wohl selber machen. „So schreibt er, unerfahren als Bühnenschriftsteller, etwas, das der Bedeutung des Checkpoint Charly zukommt.“ Und das kann nur etwas sein, das die Republikflucht direkt auf die Bretter bringt. Die ständige Ausstellung quasi visualisiert. Gegen den vergeßlichen Charakter dieser Zeit steht. Und gegen all die Kretins, die sich mit der Teilung Deutschlands abgefunden haben. Deutschland - dreigeteilt? Niemals!

III.

Aber wie soll man das machen? Am besten ist, erst mal beim Gegner zu gucken. Wie hieß die Frau noch? Rosa Luxemburg! Die hat doch gesagt: „Die Freiheit des Einzelnen ist die Freiheit des Anderen.“ Nicht schlecht. Den Satz kann man mit viel Mühe dialektisch drehen. Viel mehr als diesen Satz scheint der neugeborene Bühnenautor von Rosa Luexmburgs Schriften zwar nicht zu kennen, aber mit ein, zwei Liebesbriefen aus ihrer Feder wird sich das schon auf Checkpoint-Charly-Niveau heruntermenscheln lassen. Außerdem: „Deutschland krankt an der verratenen Revolution von 1918 noch heute.“ Und da war Rosa ja dabei - was widerum auch mit dem Mauerbau zu tun hat.

Weil das alles so ist, erfindet Hildebrandt für sein Theaterstück eine moderne Rosa, eine Mauer-Rosa, die drüben von der sozialistischen Realität verraten ist und hier immer noch Kapitalismus vorfindet. Siedelt das im Jahre 1962 an, gibt ihr einen guten Altkommunisten zum Vater, der allerdings von Stalin hingerichtet wird, weshalb sie in den Westen gewechselt ist. Lieber hier in Freiheit als bei der Stasi in Bautzen. Guter Plot. Der nur noch besser werden kann, wenn er diese Post-DDR-Propaganda in eine Schlepper-, Kuba-Krise und Spionagegeschichte einbindet. Klar, am Ende gibt es ein Happy-End, mit viel aufrüttelnden Worten an das Publikum. So sagt ein Republikflüchtling: „Jetzt sehe ich die Mauer zum ersten Mal von der anderen Seite.“ Das kommt gut, weil er jetzt die bessere Seite sehen kann. Aber auch der Schlepper muß menschlich rübergebracht werden. Darum darf er über sich folgenden Satz sprechen: „Du bis der erste, der den Leuten sagt, daß sie im Westen sind. Das ist ein gutes Gefühl.“ (allein dafür gehört Hildebrandt tagelang verprügelt. sezza)

Dann läßt der Autor noch die ganze Geschichte gegenüber vom Haus am Checkpoint Charly spielen, in einer Wohnung mit Blick auf den Osten, damit die Zuschauer auch eine echte lokale Bindung, menschlich ergreifende Bindung an das Theaterstück bekommmen. Sozusagen an Originalschauplätzen sich bewegen. Genial.

IV.

Nur, wie soll das alles in Sprache umgesetzt werden? Schließlich muß von Adam bis Atombombe jedes Menschengeschick integriert werden. Also dröhnen Metaphern so laut, daß der Zuschauer sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Eine Kostprobe: „Mit dem Beton, der für die Mauer gebraucht wurde, könnte man ein Brücke bauen vom KuDamm bis zum Alex.“ Obacht: doppelter Sinn ist hier angelegt - einmal die gewaltigen, unmenschlichen Ausmaße der Mauer und dann noch der Brückenschlag zwischen den Menschen. Hoffentlich hat das jemand kapiert. Wenn nicht, dann haben die Schauspieler noch genug überoffensichtliche Bekenntnisse zu sprechen. Klar, nicht auf die plumpe ideologische Art. Mehr menschlich, auf den kleinen Mann zugeschnitten. So kann das Publikum gepackt werden: Menschen wie du und ich auf die Bühne bringen, die nur leben wollen, aber wegen der Mauer nicht können dürfen. Damit wird gezeigt, wie das Große, die Weltgeschichte, das Kleine, den einzelnen, bestimmt. Das nenn‘ ich ganzheitliches Theater.

V.

Letztes Problem: Wie soll das nur inszeniert werden? Auch da gilt: Vom Feind lernen heißt siegen lernen. Man nehme ein x -beliebiges Straßentheater einer x-beliebigen Friedensinitiative, stelle sich vor, daß der dazugehörende Pastor das Stück geschrieben hat und die schauspielerische Leistung direkt von den Bäuchen der Darsteller in die Bäuche der Zuschauer geht. Gut, die Darstellung wirkt eher holzschnittartig, auf dem Niveau einer schlechten Vorabendserie - doch gerade das wird hier gebraucht. Von wegen mangelnde Differenz - schwarz auf weiß, mehr braucht eine Botschaft nicht, um zielgerade ins Betroffenenzentrum zu gelangen.

Kein Wunder, wenn es bei „R - wie Rosa“ gleich zu Anfang richtig physisch an die Mauer geht und die Zuschauer in die Rolle einer Touristengruppe versetzt werden, die die Grenze als achtes Weltwunder im Programm haben. Auch metaphermäßig voll geradeaus: die Narbe Deutschlands degradiert zur Touristenattraktion. Man glaubt es kaum. Bevor es dann im Theater weitergeht, klingt aus dem Radio auf der Bühne „Don't know much about history“ - wegen der Vergeßlichkeit in puncto Geschichte, und außerdem war das Lied zur Echtzeit des Plots ultramodern.

Damit zum Schluß noch ein zeitgemäßer Bezug hergestellt wird, bekommt der Schlepper eine Lederjacke angezogen schließlich waren die Schlepper die Autonomen von gestern. Hier wird es spürbar: hartes Theater, direkt an der Schmerzgrenze inszeniert.

Höttges

Die zitierten Passagen stammen entweder aus dem Programm oder aus dem Theaterstück. „R - wie Rosa“, Do-So 20.00 Uhr bis in unbestimmte Zeit im Haus am Checkpoint Charly.