„Ich erlaube mir keinen Pessimismus“

■ Interview mit Senatorin Vera Rüdiger, zuständig u.a. für Gesundheit / Über ihre Motivation, ihre Liebe zur Arbeit und zum Amt / Und über die Grenzen: Asbest, Kernindustrie, Gentechnik

Was verbinden Sie mit der Jahrtausendwende?

Vera Rüdiger: Zäsuren sind meistens gesellschaftlich oder geistesgeschichtlich bedingt. Ich weiß nicht, ob man das Jahr 2000 als Zahl für eine solche Zäsur nehmen kann.

Sie glauben nicht an Symbole? Auch Symbole können Folgewirkungen haben.

.. dann, wenn sie genutzt werden als Reflexions-Anstoß.

Wollen Sie 1999 noch hier auf diesem Senatoren-Sessel sitzen?

Das glaube ich nicht. Das wäre auch kein inhaltliches Ziel...

Wie möchten Sie in zehn Jahren leben, was soll dann um Sie herum sein?

Ich bin nicht frei von egozentrischen Motiven, aber ich möchte hier nicht egoistisch antworten. Es gibt eine unendliche Diskrepanz zu dem einen, was vor zweihundert Jahren formuliert noch immer mein persönlicher Motivgeber ist: die Quintessenz der Aussage, die der alte Lessing im Nathan und in der Ringparabel gemacht hat. Dieser Prozeß der Aufklärung ist noch lange gefährdet, und wird noch immer wieder Rückschläge haben. Meine Hoffnung für das Jahr 2000 ist, daß man ein Stück mehr an Selbstverständnis feststellen könnte,

Das andere, was für mich wichtig im Jahre zweitausend ist das, was der Anatol France mal in die Formulierung gebracht hat: Die bürgerlichen Gesetze normieren in majästitätischer Unparteiischkeit Armen wie Reichen gleichermaßen das Recht, unter Brücken zu schlafen und Holz zu stehlen. Toleranz nach innen und außen kann in unserer Gesellschaft nur funktionieren, wenn die Einzelnen eine bestimmte soziale Sicherheit und eine Persönlichkeitsentwicklung haben, die sie dazu befähigt, sich freimachen zu können von Bevormundung und Fremdbestimmung. In einer Zeit, wo Memmingen tobt und 218 wieder neu diskutiert wird und so interpretiert wird, daß das, was am 218 immerhin brauchbar ist, ad absurdum geführt wird, da die Pro Familia in Bremen in Ordnung gebracht zu haben, daß sie funktionieren kann ist das was Vernünftiges.

Wichtig ist mir auch, daß die Leute, die dann 1999 Bilanz ziehen, feststellen können: es gibt noch einen Gorbatschow, der hat seinen Kurs gehalten. Ein Stück mehr Toleranz, vernunfsbegabtes Handels im einzelnen, zweitens eine Fähigkeiten, sich Toleraz und Humanität leisten zu können, drittens diese außenpolitische Entspannung, daß die anhält, dann wäre das ganz gute Sache, das wäre eine Zäsur.

Das sind Jahrhunderte alte, lebenslängliche Ziele. Wieso könnte es für 1999 eine Zäsur geben?

Das sind Hoffnungen, Leitlinien, Orientierungspunkte... Ich kenne keinen anderen Weg, der humaner oder lohnenswerter ist.

Diese Aufklärungs-Ideale sind doch eher zweifelhaft geworden...

.. nicht nur heute, Die Aufklärung ist doch immer Zweifeln ausgesetzt gewesen. Sie ist immer Zweifeln ausgesetzt...

Menschen verbinden sie heute mehr mit Angst als mit Hoffnung. Es mehren sich Selbstzweifel über die Beherrschbarkeit dessen, was die menschliche Vernunft alles machbar macht...

Das gebe ich zu, daß die Angst zugenommen hat, und daß es auch viele Gründe dafür gibt, warum sie zugenommen hat. Aber ist das denn Anlaß zu sagen: Dieser Weg ist so gefährdet, daß es eine Illusion wäre, an ihm festzuhalten? Man kann doch berechtigterweise auch der Auffassung sein: Gerade darum muß das Bemühen verstärkt werden. Wollen wir denn überall Fundamentalistisches ertragen? Ob das der konversative Papst ist oder das die Fundis in der evangelischen Kirche sind? Oder ob das Fundis im Islam sind? Und Fundis meine ich nicht nur im religiösen Anspruch, sondern in dem Anspruch, über mich und jeden einzenen verfügen zu können.

„Ich war lange Zeit sehr, sehr sorglos...“

Sie haben die Fundis in der Ökologie vergessen...

Fundis in der Ökologie? Wir sind erst in den Anfängen, das aufzuarbeiten, was an Nachholbedarf da ist, an Fehlleistungen, die wir uns früher guten Gewissens und aus Nachlässigkeit geleistet haben. Zum Beispiel Asbest. Heute wird doch nur noch darüber disutiert, daß Asbest irgendwo gefunden wurde und wie schnell es wegzubringen ist. In meinem Wahlkreis in Hessen war ein Werk, Fulgorit, damals war Karl Schneider Umweltminister, einige Jahre vor Joschka Fischer, der hatte einen an die Landesbehörden in Hessen gerichteten Erlaß abgestzt und wollte untersagen, bei öffentlichen Bauten Asbest zu verwenden. Das hat einen irrsinnigen Sturm gegeben, große öffentliche Anklagen der Asbest-Industrie, und in meinem Wahlkreis haben Betriebsarat und Direktion in schöner Geschlossenheit eine Protestveranstaltung durchgeführt, wo der Umweltminister geladen wurde und sich rechtfertigen mußte. Ich bringe das als Beispiel für den irrsinnigen Lernprozeß.

Fundis in der Ökologie

Und bitte vergessen Sie nicht einen Lernprozeß, den ich in kürzerster Zeit und ungeheuer schmerzlich selbst durchgemacht habe, was Kernindustrie angeht, Nukem, Alkem, Transnuklear, RBU. Ich war lange Zeit sehr, sehr sorglos. Es gab anfangs nur die Unterscheidung friedliche Nutzung militärische Nutzung, und ich war zunächst fasziniert, daß Energieprobleme schonend gelöst würden. Die Gefahren hab ich lange Zeit bei der zivilen Nutzung nicht gesehen. Dann setzte die Diskussion ein, und zunächst habe ich sie für eine unbegründete gehalten. Sicherlich hat auch dieser hessische Lernprozeß in der rot-grünen Koalition, den wir durchstehen mußten, eine Rolle gespielt, und das war wirklich ein Lernprozeß mit ungeheurer Argumentation. Man mußte immer wieder übreprüfen: Stimmt denn das? Bis hin zu der Absage vor der letzten Landtagswahl: allmählicher Ausstieg. Ein Teil der Facharbiter von Hanau lebte in meinem Wahlkreis, auch die Ingenieeure ich fand also jeden Morgen in den Regionalausgaben große Annoncen, wo der Be

triebsrat an die Wähler die Aufforderung richtete, nur die zu wählen, die zu den Arbeitsplätzen stehen. Fundis? Sicherlich gibt es rigide Leute im Umweltschutzbereich, aber die „Fundamentalisten“ sind ja Menschen, die gegen eine Entwicklung aufstehen, die mit dem Stichwort Aufklärung und Rationalismus zu greifen ist. Der Umweltbereich ist ja eine Gegenbewegung gegen Vernachlässigtes. Das kann man nicht in einen Topf werfen.

Aufklärung über die Naturzusammenhänge ist ja eine Voraussetzung dieser Technlogien...

Ich habe es in der geistesgeschichtlichen Entwicklung gemeint...

Sind Sie voller Hoffnung in diesem Konflikt zwischen ökologischer Unnachgiebigkeit und dem Glauben an die Machbarkeit des Fortschritts?

Ich bin absolut sicher, daß die abzuarbeitenden Fehler der Vergangenheit bei der Bevölkerung allmählich das Bewußtsein verschärfen, daß also viele Konflikte leichter durchzustehen sein werden. Der Asbest-Konflikt würde heute...

Können Sie sich vorstellen, daß bestimmte Industriebereiche aus Gesundheits-Gründen einfach dichtgemacht werden?

Ja, Ich habe das Beispiel Asbest genommen. Allerdings gibt es auch Grenzbereiche, wo Belästigungen vorhanden sind und wo man darauf achten muß, daß der neueste Stand der technologischen Entwicklung durchgesetzt wird. Unsere Techniker können viel mehr an Umwelschonendem entwickeln, als manche ihnen zutrauen. Der Druck in dieser Richtung wird wachsen, den Schaden,

soweit es technologisch überhaupt nur geht, zu vermindern. Gut, das wird immer betriebswirtschaftliche Gegenrechnungen hervorrufen, im Einzelfall muß man dann entscheiden. Es gibt da kein Patentrezept, daran zu denken, daß Menschen von irgend etwas leben müssen, aber sie müssen auch leben können.

„Ich arbeite viel und gern“

Vielen Menschen geht es so, daß sie denken: Noch zehn Jahre weiter so im Beruf - das kann es doch nicht gewesen sein. Kennen Sie das Gefühl?

Nein. Ich wäre überfordert, zu sagen, ob die Motivation, aus der ich arbeite, und ich arbeite viel und arbeite gern, ob die in zehn Jahren auch noch da sein wird. Das weiß ich nicht. Ich muß Sinn in der Arbeit sehen. Ich bin viel bescheidener geworden, ich bin nicht mehr so, daß ich verrückt werde, wenn ich nicht morgen das durchgesetzt habe, wofür ich längere Zeiten brauche. Aber die Richtung muß stimmen. Ich muß Schritte weiterkommen, die mir wichtig sind. Die Richtung muß stimmen. Hätten Sie mich früher, vor drei, vier Jahren gefragt und ich hätte Ihnen eine ehrliche Antwort gegeben, da wäre diese Aussage mit drin gewesen. Aber wenn ich ganz Ihnen mein Herz geöffnet hätte, hätte ich hinzufügen müssen (ich hätte es wahrscheinlich nicht getan, weil ich eine Scheu gehabt hätte): Ich bin nicht sicher, wie ich einen Zustand verkrafte, in dem ich plötzlich nicht mehr beruflich gefordert bin. Ich bin ja sehr eindimensional in meiner Arbeit ausgerichtet, ich habe mich nicht relativiert durch Familie oder Kinder.

Ich habe eine ganz große Chance in meinem Leben bekommen, die zunächst fürchterlich war, als am 5.April 1987 die Regierungsmehrheit in Hessen verlustig ging. Von heute auf morgen war die Welt völlig anders. Ich habe die große Chance bekommen, verarbeiten zu müssen, was so ein ganz abrupter Bruch bedeutet für jemand, der so eindimensional - das klingt gräßlich aber Sie wissen, was ich damit meine arbeitet. Und ich habe empfunden, welche riesigen Defizite ich auch in den Jahren aufgestapelt habe. Daß ich für vieles, das mit auch wesentlich ist, keine Kraft mehr hatte.

Insbesondere in den drei Monaten, in denen ich den Umzug nach Bremen machte und noch nicht ins Amt gewählt war, also auf Bremerin lernte, konnte ich es mir leisten, so lange zu lesen, bis ich das Interesse verloren oder das Buch ausgelesen hatte. Ich mußte nicht überlegen, wie lange darfst Du, um morgen nicht allzu gnatschig in den Dienst zu kommen. Diese Erfahrung hat mich innerlich freier gemacht. Ich kann noch nicht sagen: Ich werde so lange oder so lange arbeiten. Ich werde so lange arbeiten, wie die Arbeit mir Sinn gibt.

Workoholic?

Ja. Ich glaube ich bin sehr preußisch. Das mag auch etwas an der Frauengeneration liegen, zu der ich gehöre. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß es keinen Grund gibt, Minderwertigskeits-Komplexe zu haben. Aber ich bin aufgewachsen mit diesem gewissen Trotz: Jetzt will ich es Euch zeigen. Da habe ich meine Arbeitshaltung entwickelt, und da komme ich nicht mehr heraus.

Was soll sich in den nächsten zehn Jahren im bremischen Gesundheitswesen verändern? Was muß sich da ändern?

Kurzfristig? Ändern soll sich das, was möglich ist, damit auch in Zukunft hilfesuchende Menschen Hilfe finden. Das klingt ungeheuer technokratisch, hat aber viele Voraussetzungen - vom finanziellem Einsatz des Landes, der Träger, Entscheidungem, was man mit den Ressourcen tut, bis hin zur Durchsetzung einer besseren Personalbesetzung. Bessere Personalbesetzung heißt auch, daß dem Einzelnen mehr Zuwendung gegeben werden kann. Insbesondere in Zeiten, wo immer mehr ältere Menschen, die allein und einsam sind, in stationären Versorgung kommen, müssen genügend Ärzte und Pflegekräfte Zeit haben.

Ein anderen Beispiel: Es gibt einen großen Komplex, für den kein Mensch mehr eine Patentlösung hat, den Drogenbereich mit seinen Problemen, die sich zusammengeballt haben, da möchte ich mich auch gesundheitspolitisch verantwortlich fühlen selbst für die, die durch kein Entzugsprogramm erreicht werden können, die in ihrer Sucht verbleiben.

„Gentechnik ist ein

Instrumentarium“

Als große Gefahr im Gesundheitsbereich wird von vielen die Gentechnik gesehen.

Gentechnik ist ja zunächst ein Instrumentarium. Man muß fragen, wo ist die Anwendung legitim, und wo muß man sagen: Der Zweifel ist so groß, „Bitte nicht“. Wir haben eine hausinterne Arbeitsgruppe gebildet...

Glauben Sie, daß man Forschung und technologische Anwendungen verhindern kann? Nicht nur zwischen Bonn und Bremen, sondern weltweit?

Das ist das Argument: Ihr könnt gar nichts bewirken, denn wohin geht Hoechst? Wenn ihr das in Hessen untersagt, dann gehen sie nach Amerika. Aber wenn dieses Argument sich durchsetzen würde, dann könnten wir gar nichts tun. Das war auch das Argument beim Katalysator-Auto. Dieses Argument zwingt einen dazu, nichts zu tun. Wir sind verantwortlich für das, was im eigenen Land passiert. Wir dürfen nicht das, was notwendig ist, tun bzw. lassen, nur weil andere anders handeln. Das tun wir ein keinem Politikbereich.

Wir wissen ganz genau, daß Gentechnik auch eine Rolle spielt nach der Suche nach einem Präparat gegen Aids. Ich würd niemals etwas tun, was diese Forschung behindert. Also ich frage nach den Zielen. Ich habe als Wissenschaftsministerin in Hessen Grundlagenforschungen der Molekularbiologie verantwortet. In der Universität können Sie mit den notwendigen Diskussionsebenen ein großes Ausmaß an Transparenz sicherstellen, um die Frage aufzuwerfen, ist die gentechnische Anwendungen verwerflich oder problematisch oder nicht. Da sind Sie informiert über Projektmittel, Entscheidungen, Verträge. Etwas ganz anderes ist es, was in den Forschungs-und Entwicklungsabteilungen bei Hoechst zum Beispiel geschieht. Wenn ich davon überzeugt bin, es ist problematisch, dann muß ich mich dafür einsetzen, daß es unterbleibt.

Die Frage ist, ob das „Sich-Einsetzen“ erfolgreich ist. Glauben Sie, daß es eine verantwortungsbewußte Kontrolle geben kann? Sind Sie da optimistisch?

Ich bin nicht optimistisch, und ich erlaube mir keinen Pessimismus. Fragen: K.W