Alltag in der Kita Stichnatstraße

■ Reportage aus einer normalen Kindertagesstätte in einem soziokulturell benach- teiligten Stadtteil / Ausländeranteil bei 50%, Eltern zu 40% arbeitlos, Kita überlaufen

„Man(n) nimmts den Armen der reichen Länder und gibts den Reichen der armen Länder. Die Reichen der armen Länder gebens wiederum den Reichen der reichen Länder. Das ganze nennt sich dann Entwicklungshilfe.“ Dieser Spruch hängt über dem Schreibtisch von Helmut Robbers, der einer besonderen Gruppe von „Entwicklungshelfern“ angehört: Robbers ist seit 12 Jahren Leiter des Kindertagesheims Stichnathstraße in Kattenturm-Mitte, einem soziokulturell besonders benachteiligten Gebiet Bremens. Der Ausländeranteil liegt in einigen Bereichen bei nahezu 50%, fast 40% der Eltern aller Kindergartenkinder sind arbeitlos. Wie überall in Bremen ist auch die Kindertagesstätte in der Stichnathstraße völlig überlaufen. Für die 190 Plätze liegen für das nächste Kindergartenjahr 270 Anmeldungen vor. Aber es gibt ein zusätzliches, besonderes Problem: Unter den Kindern gibt es 13 verschiedene Nationalitäten.

Vor fünf bis sechs Jahren sind die Kita-MitarbeiterInnen fast unvorbereitet mit einer Vielzahl neuer Probleme konfrontiert worden, als die ersten türkischen Kinder in die Einrichtung kamen. Es galt, neue Wertvorstellungen und Lebensgewohnheiten zu erkennen und in die tägliche Praxis einzubeziehen. Das erforderte von den MitarbeiterInnen Umdenken und neue Lernprozesse. So hatte es auch mit dem Küchenpersonal lange Diskussionen gegeben. Heute ist klar, daß beispielsweise Schweinefleisch nicht auf den Teller von Kindern kommt, die dies aus Glaubensgründen nicht essen. „Und die MitarbeiterInnen in der Küche stehen da auch hinter“, versichert Robbers. Auch das gemeinsamen Schwimmengehen wurde plötzlich zum Problem. „Wir mußten erst lernen, daß türkische Mädchen nicht nackt gesehen werden dürfen“, so der Pädagoge. „Die sind sonst in ihrer Heimat unten durch. Die Wege in die Türkei

sind da ganz kurz.“

Der rücksichtsvolle Umgang mit unterschiedlichen Kulturen gehört mittlerweile zur täglichen Routine in der Kita. Robbers: „Wir haben uns hier einen Freiraum für praktizierte multinationale Kultur geschaffen.“

Auch die Situation in den deutschen Elternhäusern bringt erhebliche Probleme mit sich. Die insbeondere durch Arbeitslosigkeit gekennzeichneten sozialen Bedingungen in vielen Familien führen zunehmend zu Konflikten und wirken sich natürlich auch auf die Entwicklung der Kinder aus. Auch das Fernsehen hat sich einen festen Platz in ihrem Leben erobert. „Es ist für die Eltern viel einfacher, die Glotze anzumachen, als mit ihren Kindern zu spielen“ so Robbers. Die Kinder erhalten immer weniger soziale Wärme; Kreativität, Phantasie und sprachliches Vermögen verkümmern immer mehr.

Deshalb müsse die Erziehung auch in die Elternhäuser hinein

wirken und die Eltern in die Arbeit in der Kita einbezogen werden. In Ansätzen geschehe dies bereits. Insgesamt erfordert eine so verstandene pädagogische Arbeit aber eine wesentlich bessere personelle Ausstattung. Robbers hält schon die jetzige Gruppengröße von 20 Kindern für zu hoch. Weiteren Planungen, wie etwa der jetzt diskutierten Erhöhgung auf 21 Kinder pro Gruppe, erteilt er eine deutliche Absage.

Für Robbers ist dieser übergreifende pädagogische Auftrags bereits tägliche Praxis. Er gehört einer örtlichen Arbeitsgruppe an, die sich die Verbesserung des Wohnumfeldes in Kattenturm-Mitte und insbesondere die Schaffung von Freizeitangeboten für Jugendliche zur Aufgabe gemacht hat. Und in Zusammenarbeit mit der Bremer Uni arbeitet er an einem Entschuldungsmodell, das betroffenen Familien eine langfristige Hilfe und Lebensperspektive geben soll. om