„Du - Revolution ist jetzt echt nicht drin“

■ oder: Exkulpationsstrategien in der Sekundär- bzw. Tertiär-Adoleszenz, unter Beteiligten der akademischen Insurrektionsbewegung der späten sechziger Jahre in der Bundesrepublik

Das von mir geleitete Institut erhielt einen von der Hando -Matasuboshu-Stiftung finanzierten Forschungsauftrag, die Einwirkungen der Bewegungen der sogenannten 68er auf die Alltagskultur zu erforschen.

Es war zu vermuten, daß insbesondere unter dem Einfluß der neuentdeckten „Kritischen Theorie“ und der nunmehr erfolgten Rezeption des Marxismus-Leninismus durch die aufstrebende Jung-Bourgeoisie die Weichen gestellt waren, die Kultur der Arbeiterbewegung und der antiimperialistischen Kämpfe der Dritten Welt zum Leitmotiv des politischen Handelns weiter Kreise der bürgerlichen Klasse werden zu lassen. Die Untersuchung erstreckte sich auf die Frage, inwiefern sich dies auf

-revolutionären Elan,

-innovative Konfliktfähigkeit und

-gewachsene Zivilcourage ausgewirkt hat.

Wir fanden Porzellan statt Gold:

Das Ergebnis war überraschend: Es ähnelte der Situation Böttchers, der Gold machen wollte und das Porzellan erfand. Unser Projekt schien in seiner Hauptzielrichtung zu scheitern, weil nicht nur unser anfangs aus 60 Mitarbeitern bestehendes Team auf nach und nach drei schrumpfte. Auch unter den zu Befragenden - Gruppen wie Einzelpersonen entzogen sich fast 90 Prozent der Aufgabe.

Doch, und das war das Verblüffende, zeigte sich bald eine signifikante Begleiterkenntnis, die für uns schnell zur Hauptsache wurde: Die Absagen und Verweigerungen erfolgten nicht sang- und klanglos, sondern mit teilweise umfangreichen exkulpativen Begründungen, die zum einen von der neuartigen Formulierungsfähigkeit zeugten und zum anderen aus der Geschichte der bürgerlichen Revolution und der Arbeiterbewegung in dieser Form nicht bekannt waren.

„Die Strategie der Ausrede“

Wir änderten notgedrungen und mit Zustimmung unserer Geldgeber das Forschungsthema, und als Ergebnis stellte sich eine erstaunliche Entwicklung der Exkulpationskultur, eine nahezu filigranhafte Verfeinerung dessen heraus, was ich die „Strategie der Ausrede“ nennen möchte.

So benutzte keiner eine der klassischen sogenannten „operationalen (oder sachzwanghaften) Entschuldigungen“ wie: Ich habe verschlafen - Mein Auto sprang nicht an - Ich bin krank - Ich bin versumpft. Allerdings erschienen zeitweilig Exkulpationsstrategien dieser Art in etwas abgewandelter Form, die ich als „charmante Hilflosigkeitsappelle“ (technische Ungewandtheit) bis hin zu Eskapismen aus angepaßt funktionalen Verhaltensweisen (Ich lehne Terminkalender ab) bezeichnen möchte: Da dies allerdings nicht der eigentliche Gegenstand unseres Interesses war, seien hiervon nur einige Beispiele herausgegriffen:

-Ich hatte deine Telefonnummer nicht (Unfähigkeit im Umgang mit Telefonbüchern);

-Ich konnte das (als Treffpunkt vereinbarte) Lokal nicht finden (Unfähigkeit im Umgang mit Stadtplänen - Scheu, Passanten zu fragen);

-Ich hatte keine Ahnung, wie spät es schon war (Ablehnung von Zeitrastern und ihren technischen Meßinstrumenten Pünktlichkeit ist „repressiv“).

Die weitergehende, hier eigentlich interessierende Kategorisierung will ich im folgenden aufzeigen, wegen der Kürze der Zeit jedoch nur grobgerastert und mit einer Reihe von beispielhaften Wendungen belegen:

I. Die politisch gesellschaftliche Exkulpation

1. aggressiv:

Ihr werdet doch nur vom Großkapital finanziert. Die Ergebnisse dienen ja nur der Kapitalverwertung.

Ich denke nicht daran, irgendwelche Dateien zu füttern.

Ihr polstert damit nur eure eigene Karriere.

Ich arbeite politisch auf einem ganz anderen Feld. Dafür sind eure Fragen überhaupt nicht relevant.

Diese bürgerliche Form der Wissenschaft entspricht weder den Anforderungen noch den Interessen des Proletariats.

Habt ihr nichts Wichtigeres zu tun? Der Wald versauert, die Rüstung tobt, und ihr macht Kreuzchen auf Fragebogen!

2. contemplativ:

Du, ich bin zur Zeit politisch im Umbruch, ich muß mich erst neu orientieren.

Weißt du, ich bin zur Zeit nicht überzeugt, daß solche Untersuchungen irgendetwas bewirken können.

Versteh bitte, aber ich muß mich zur Zeit politisch etwas bedeckt halten, um mir die politische Bewegungsfreiheit zu erhalten, und ich weiß ja nicht, wo ihr das verwendet.

Meine politische Arbeit belastet mich zur Zeit so stark, daß ich für so etwas gar keine freien Kapazitäten habe.

3. resignativ:

Du, mich macht das Politische zur Zeit so fertig, ich fahre erst mal mit meiner Frauen- (Männer-) Gruppe nach Gomera.

Meine Frustrationsgrenze ist erreicht. Ich habe mich erst mal von der Politik zurückgezogen.

Politik fängt in der Kleingruppe an. Ich organisiere erst mal meine WG, dann meine Beziehung, und anschließend will ich ein Kind. Bevor ich diesen neuen Menschen zur Welt gebracht (gezeugt) und erzogen habe, hat alles keinen Sinn.

Weißt du, mir geht es eigentlich ganz gut. Wir haben doch gelernt, daß die Befreiung der Arbeiter das Werk der Arbeiter sein muß. Die Frauen können sich auch nur selbst befreien, und dassselbe gilt für die Dritte Welt. Ich bin kein Arbeiter, keine Frau und auch kein Neger. Was soll ich dann in der Politik?

II. Die individualistische (privatistische) Exkulpation

(Natürlich ist dem Verfasser bewußt, daß die Grenzen zwischen den Kategorien des Gesellschaftlichen / Politischen und des Individualistisch / Privatistischen fließend sind, ja beides einander bedingt und beeinflußt. Dennoch, um der besseren Verständlichkeit willen sei diese Abgrenzung gestattet.)

1. accusative (anklagende)

Mit mir war bisher auch noch keiner solidarisch. Letztlich mußte ich mir immer alleine helfen.

Alle wollen nur etwas von mir, jetzt muß ich auch mal an mich denken.

Die linken Politiker sind auch nicht besser. Die denken auch nur an sich und an ihre Selbstdarstellung. Da halte ich mich raus.

Weißt Du, eigentlich ist mir das, was ihr macht, nicht radikal genug, aber ich bin noch nicht so weit, mich selbst zu radikalisieren.

Weißt du, wenn ich euch nicht gut genug bin, mich an der Fragestellung zu beteiligen, statt mir repressiv diesen fertigen Bogen vorzulegen, dann macht euch doch auch die Antworten selber.

Ihr blast euch doch nur auf meine Kosten auf.

2. victimistisch (Opferrolle)

Ich finde das echt beschissen, wie ihr mich mit eurem Wissenschaftsanspruch unter Druck setzt.

Weißt Du, Du mußt das verstehen, ich stecke gerade in einer unheimlich schwierigen Beziehungskiste.

Mein Analytiker meint, das ist jetzt nicht so gut für mich. Ich bin zur Zeit nicht in der Lage, mich dem zu widersetzen.

Ich habe mich in der letzten Zeit nur auseinandergesetzt und zusammengesetzt, aufgearbeitet und abgearbeitet, analysiert und tyrannisiert, jetzt kann ich echt nicht mehr auch noch das.

Weißt du, ich kann zur Zeit nicht damit umgehen, immer nur Objekt zu sein. Da habe ich echt einen totalen Block.

3. emanzipatorisch (Diese Kategorie sei unterteilt in die emanzipatorisch emanzipative (a.) und die emanzipatorisch restaurative (karrieristische (b.)

a.) Du, ich lasse mich jetzt nicht mehr unter diesen Aktionsdruck setzen.

Eure Arbeit ist mir zu fremdbestimmt. Ich habe jetzt mein eigenes Kollektiv. Da diskutieren wir gerade etwas Ähnliches.

Ich habe mich entschieden, mich erst mal in meiner Beziehung zu emanzipieren.

Das mußt du verstehen, aber meine Kinder wollen auch mal sonntags mit mir schmusen, das ist wichtiger. Was nützt das, wenn das sonst so verbogene vater- (mutter-) lose Wesen werden.

Ich arbeite gerade unheimlich an mir selbst, aber mein Weg ist mir zur Zeit noch überhaupt nicht klar.

Weißt Du, meine Freundin macht gerade so einen unheimlich produktiven Entwicklungsprozeß durch. Da kann ich sie nun wirklich nicht allein lassen. (Nur bei männlichen Beteiligten zu beobachten.)

Ich habe gerade so einen echt aufgeschlossenen stinkreichen Jungunternehmer kennengelernt. Den will ich von seinem Chauvi-Punkt runterholen. Das nimmt mich gerade voll in Anspruch (nur bei weiblichen beteiligten zu beobachten? sezza).

b.) Du, daß ich jetzt Entwicklungsingenieur bei MBB bin, hat nur den Grund, weil ich dort den Betriebsrat umkrempeln will.

Ja ja, ich arbeite bei der 'Bild'-Zeitung, aber nur, um den Laden mal von innen kennenzulernen.

Daß ich jetzt die Häuser meines Vaters verwalte, hat nur den Grund, daß er mich später nicht enterbt und ich sie später in eine selbstverwaltete Grundstücksgesellschaft einbringen kann.

Daß wir unsere Kinder getauft haben, hat nur den Grund, daß meine (seine/ihre) Eltern uns so unter Druck gesetzt haben und wir zur Zeit keine Kapazitäten für diesen Konflikt haben. Außerdem können wir ja nicht über die Köpfe der Kinder hinweg einfach über ihre Erbchancen entscheiden.

Daß ich als Prüfer besonders streng bin, hat nur den Grund, weil ich in der Uni derart unter Druck bin. Ich kann mir da überhaupt nichts leisten.

Daß ich zur Zeit nichts für Nicaragua spenden kann, hat nur den Grund, weil das BHW mir derart viel Zinsen für meine Eigentumswohnung abnimmt, daß ich echt nur ganz wenig geben könnte, und das wäre ja eher beleidigend für die Leute da unten.

Daß ich als Anwalt auch Hausbesitzer vertrete, hat nur den Grund, weißt du, es gibt auch unheimlich beschissene Mieter.

Daß ich jetzt hier nicht weitermache, hat nur den Grund, weil mir die Hando-Matsaboshu-Stiftung einen unheimlich guten Job in Lateinamerika angeboten hat, und hier in Europa läuft ja sowieso nicht mehr viel...

( (Vortrag - gehalten vor der Forschungsstelle „Wie gehe ich mit meiner Betroffenheit um e.V.“ Glücksburg, am 2. Juni 1988; Nachdruck - auszugsweise - aus der Chittaghooga Sociological Times - rückübersetzt von Klaus Eschen, Berlin-West)

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