DIE BESTIE IN MENSCHENGESTALT

■ „Der Flug des Fisches“ im Schauplatz-Theater

Um Kinderabrichtung und Menschendressur kreist der groteske Traum vom alle Angst-Schwere überwindenden Flugfisch, den der Stuttgarter Bernd Hellstein im „Schauplatz“ präsentiert.

Eine Körper-Partitur des Kindheitsschreckens und der scheiternden Revolte. Ein Solo-Programm mit Figurenvielfalt, rasanter gestischer Verwandlung. Aus dem Leib des ängstlich kauernden, verstörten, hilfeheischenden Zöglings Martin kriechen Tiergestalten, Verkörperungen seiner Bedrängung.

Der Vater: ein Hund, dessen Befehle in ein wütendes Kläffen mutieren - dieser Abrichter ist selbst ein Abgerichteter. Ein Psychiater erscheint als Echse, deren Wortgezüngel den unangepaßten Regelbrecher mit spitzem Zischen stigmatisiert. Ein Sozial-Bestiarium, aus dem Martin ausbricht - ausbricht zum Flug des Fisches, zur Reise der Unmöglichkeit.

Doch auch die Lüfte bieten kein Exil vor der Ordnung; Ausbruch bleibt für das Kind wie für den Erwachsenen an Strafe gekoppelt. Martin, dessen Ikarus-Visionen im Turm -Arrest des Ferienheimes entstehen, muß sein Pilotenglück bezahlen - später, als „Großer“, entführt er einen Jumbo, läßt seine greise Erzieherin, Tante Martha die Allgewaltige, in den Tower zitieren und verlangt, daß sie die demütigenden Erziehungsrituale an sich selbst vollzieht. Nun, ein einziges Mal, befiehlt er. Auf diese Ungeheuerlichkeit steht Dauerarrest. Endstation: die Zelle für den Gesellschaftsfeind oder die Klappse für den Psychopathen.

Hellstein und sein argentinischer Regisseur Benito Gutmacher erzählen ihre Story verschachtelt; aus Splittern, szenischen Nummern erwächst ein beklemmendes Bild. Hellstein subjektiviert den Blick, läßt die Verletzungen erfahren. Großartig die Gabe des geschulten Pantomimen, der artaudsche Ekstase mit präzisen Details verknüpft, bestechend die Darstellung der Hauptfigur - etwas schematisch dagegen der gesellschaftliche Counterpart, der als pure Maschinerie, als eine Welt seelenloser Lemuren, gesichtsleerer Masken erscheint. Manchmal - in den besten Momenten der Aufführung

-verschieben sich die starren Konturen in dem Dualismus Unterdrücker - Unterdrückter, verleiht der Schauspieler der wandernden Erziehungsregel Martha, Martins Horrogouvernante, eine menschliche Präsenz; dann gerät ihre zementierte Bunker -Fresse in unerwartete mimische Bewegung. Der bigotte Roboter steigert seine Lieblingsvokabel „Verbot“ in eine ekstatisch-religiöse Verzückung, und im Geifern bricht sich Marthas Sexualnot Bahn. Kontrollverlust: Marthas Gesicht verzerrt sich, bis sie selbst zum kleinen Mädchen wird, das sich der Autorität unterwirft, dem verlogenen Eros der Macht. Da wird sichtbar, wie ein Mechanimus entsteht. Die Maske verrutscht. Unter dem unpersönlichen Drill liegen die Abgründe von Lust und Angst.

jens müller

Noch bis zum 7.April im „Schauplatz„-Theater, Dieffenbachstraße