UNTER DER OBERFLÄCHE

■ „Neue Filme aus Argentinien“ im Arsenal

Für Aufsehen und positive Resonanz sorgte das Filmland Argentinien bei uns spätestens, als im Rahmen der Berlinale 1985 eine größere Auswahl engagierter Produktionen gezeigt wurde, die anschließend auch in bundesdeutsche Kinos kam: Wohl nirgends auf dem lateinamerikanischen Kontinent wurde die Auseinandersetzung mit der jüngsten, barbarischen Vergangenheit derart couragiert geführt wie in Argentinien. Daß die junge Generation argentinischer Filmemacher stilistisch nach wie vor erstaunlich vielfältig - die Themen von gestern noch längst nicht zu den Akten gelegt hat, zeigt die Reihe „Neue Filme aus Argentinien“, die vom 1. bis 12.April im Arsenal zu sehen ist.

Auch wenn aktuelle Beiträge, wenn Solanas‘ „Sur“ oder Jeanine Meerapfels „Desembarcos“ (er soll im April anlaufen) aufgrund der kommerziellen Verwertung im Programm fehlen, kann sich die in Zusammenarbeit mit dem nationalen Filminstitut Argentiniens (INC) zusammengestellte Reihe von zwölf Filmen sehen lassen. Denn wo die Auseinandersetzung mit den Verbrechen unter der Militärdiktatur längst kein Wahlkampfthema mehr sein soll - am 17. Mai wird der Nachfolger Alfonsins gewählt -, wo die Mörder von gestern längst schon wieder Order haben, der „Subversion“ den Kampf anzusagen, ist der Blick unter die Oberfläche des staatlich verordneten „Vergessens“ mehr als aufschlußreich. Auch, weil beispielsweise Fragen nach der Erarbeitung unserer eigenen Geschichte aufgeworfen werden.

Daß zumindest mit dem 1984 geschaffenen, mit für unsere Verhältnisse bescheidenen Mitteln ausgestatteten Instituto nacional de cinematografico (INC) eine Basis geschaffen wurde, auf der sich ästhetisch anspruchsvolle, inhaltlich heute schon wieder brisante Projekte realisieren lassen, macht Hoffnung für eine Revitalisierung des demokratischen Prozesses. Auch wenn davon momentan in Argentinien wenig zu spüren ist, was sich auch in den Filmen spiegelt: Zukunftsentwürfe wie gesellschaftliche Perspektiven fehlen, es bleiben unbequeme Fragen nach dem Zustand der Gesellschaft. Wohl am provokantesten werden derartige Fragen - wenn auch in eher verschlüsselter Form - von Jorge Polaco in En el nombre del hijo (Im Namen des Sohnes/1987) aufgeworfen. Sich konsequent den Mustern gängiger Kinoästhetik entziehend, beschreibt Polaco mit präziser Kamera eine pathologische Mutter-Sohn-Beziehung. Schonungslos wird in die Abgründe einer extrem repressiven Gesellschaft geleuchtet, in der hinter der kleinbürgerlichen Fassade Konflikte um Liebe, Sexualität, Einsamkeit und Identität am Ende nur mit Gewalt gelöst werden können (4.April, 20.00 und 6.April, 22.15). Fragen der persönlichen, aber vor allem auch der politischen Identität greift Alejandro Agresti in El amor es una mujer gorda (Die Liebe ist eine dicke Frau/1987) auf. Sein Protagonist Jose, ein Journalist, soll einem renommierten nordamerikanischen Regisseur zuarbeiten, der einen kommerziellen Film über die Armut und das Elend in Buenos Aires drehen will. In schwarz-weiß gedreht, folgt Agresti dem Intellektuellen auf seiner Odyssee durch das nächtliche Buneos Aires: ein bemerkenswertes Porträt eines Mannes, der wie viele seiner Generation Schwierigkeiten hat, mit der Realität klarzukommen wie mit den gesellschaftlichen Widersprüchen, die sich in ihm spiegeln (nur am 11. April, 20.00).

Politisch brisante Themen finden sich längst auch in den eher kommerziell ausgerichteten Produktionen wieder, wenngleich mit eher bescheidenem Resultat. An einem authentischen Fall aus dem Jahr 1984 ist Roberto Maioccos Gracias por los servicios (Danke für die Dienste/1988) orientiert. Drei maskierte Männer, offensichtlich Angehörige jener berüchtigten „parapolizeilichen“ Organisationen, verschaffen sich Zutritt zu einem Luxusapartment. Nach der Ermordung des Dienstmädchens setzen sie die zunächst ahnungslose Ehefrau eines „seriösen“ Geschäftsmannes unter Druck, um den Verbleib von 500.000 US-Dollar aufzuklären, die dieser im Rahmen obskurer geheimdienstlicher Aktivitäten verborgen hat. Was dramaturgisch und geschickt im Stil eines psychologisch interessanten Polit-Thrillers beginnt, endet bald im Leerlauf, weil Maioccas Drehbuch ganz auf die psychologische Ausdeutung setzt und uns über die Hintergründe weitgehend im unklaren läßt (2.April, 18.00 und 9.April, 20.00). Ganz auf vordergründige Effekte abgestellt ist hingegen Gustavo Moosqueras Lo que vendra (Was kommen wird/1988): Das politisch repressive Klima im heutigen Buenos Aires, die Aktivitäten polizeilicher Sondereinheiten, deren zufälliges Opfer sein Protagonist Miguel wird, sind kaum mehr als ein Aufhänger für eine modernistische, hollywood-mäßige Inszenierung, die indes exzellent musikalisch unterlegt ist (8.April, 22.15 und 10. April, 20.00).

Weit unspektakulärer, was den technischen Aufwand angeht, aber in Argumentation und Ausführung überzeugender, weil die eigene filmische Handschrift erkennbar bleibt, ist da beispielsweise Bebe Kamins Los chicos de la guerra (Kinder des Krieges/1984): Ein ebenso beeindruckendes wie atmosphärisch dichtes Porträt jener Generation, die im Malvinen-Krieg um ihre Hoffnungen betrogen wurde (nur am 9.April, 22.15). Gespannt sein dürfen wir auf die Westberliner Premieren von Maecelos Cespedes filmischer Chronik über Buenos Aires (Buenos Aires - cronicas villeras/1988, am 5.April um 18.00 und am 8.April um 20.00) und Sofia: Alejando Doria leistet in seinem achten Spielfilm aus der Perspektive einer Frau einen interessanten Beitrag zum düsteren Kapitel Militärdiktatur (am 11.April, 22.15 und am 15.April, 20.00). Gerade auch, weil kleinere, eher experimentelle Produktionen wie Sinfin von Christian Pauls und La sagrada familia (Die heilige Familie/Pablo Cesar) neben den Dokumentarfilmen (Ciro Capellarris Mapuche-Porträt Amor America oder Zanandas Hommage an den Tango) Eingang in das Programm fanden, werden mehr als Einblicke in die Breite des argentinischen Filmschaffens möglich.

R. Braun