UNERHÖRTES AUS DER LINDENSTRASSE

■ „Die Marquise von O...“ im Hebbel-Theater

Das erste Lesen Heinrich von Kleists Erzählung Die Marquise von O... dauert eine halbe Stunde. Dabei fällt natürlich mehr als die Hälfte unter den Lesesessel, aber das läßt sich beim zweiten Lesen wieder aufsammeln. Dieses dauert eine Stunde, das dritte auch, und ab dem vierten Mal reduziert sich der Zeitaufwand wieder auf eine halbe. Das Lesen läßt sich über Monate, Jahre verteilen. Das ist ja das Schöne an Literatur, daß sie nicht wie die leidigen Notwendigkeiten Kochen, Essen, Schlafen zusammenhängende Zeiteinheiten beansprucht.

Hans-Jürgen Syberberg ist da anderer Ansicht. Seine Inszenierung der Die Marquise von O... nahm mir über vier Stunden meines ohnehin zu kurzen Lebens. Weg ist weg, und das einzige, was mir von diesem Abend geblieben ist, ist der Vorsatz, die „Marquise“ so schnell nicht wieder zur Hand zu nehmen. Denn das Beste an ihr war das Entdecken immer neuer Details, und das hat mir Syberberg gründlich verdorben.

Über das, was ich unter dem Lesesessel wieder hervorgekramt hatte, war ich verblüfft. Mir war nur dieses unerhörte Ereignis im Gedächtnis geblieben: Ein vermeintlicher Kavalier erobert mit seiner Armee das Fort von G., vergewaltigt die ohnmächtige Marquise, hält dann als Ehrenmann um ihre Hand an, und sie heiratet ihn letztendlich auch noch. Schweine-Kleist! „Schweine-Kleist“ jedoch nahm mir den Wind gleich wieder aus den Segeln und ließ mich wehrlos auf Entdeckungsfahrt durch seine Erzählung treiben. Und immerhin tragen Mutter und Tochter noch einen gehörigen Sieg über den Vater, den alten Patriarchen, davon.

Trotzdem ist die Geschichte heute immer noch unerhört, wenn auch aus anderen Gründen als für die Gesellschaft von 1808: „Nur die Fabel derselben angeben heißt schon, sie aus den gesitteten Zirkeln zu verbannen. Die Marquise ist schwanger geworden und weiß nicht wie und von wem. Ist das ein Sujet, das in einem Journal für die Kunst eine Stelle verdiente?“ zeterte ein Zeitgenosse Kleists. Aber die unerhörte Begebenheit war der Grund, daß Kleists Erzählung von Novellentheoretikern in den Stall ihrer Paradepferde aufgenommen wurde. „Die Marquise“ ist nun ein Klassiker.

Es ist ohnehin etwas gewagt, eine Novelle auf die Bühne zu bringen. Glücklicherweise kam Syberberg nicht auf die Idee, die Prosa in Dialoge umschreiben zu lassen. Vielmehr mutet er Edith Clever die unerhörte Leistung zu, die ganze Erzählung wortwörtlich wiederzugeben. Das gelingt ihr glänzend und belebt wieder die Kunst des Erzählens und des Zuhörens auf einer Bühne, auf der sich nur ein Diwan, zwei Frauenstatuen, ein Tisch und welkes Laub befinden. Platz für eigene Vorstellung wäre ja gewesen. Doch was läßt Syberberg die Schauspielerin während eines viereinhalbstündigen Monologs tun? Er läßt sie hinfallen, wenn vom Hinfallen die Rede ist, niederknien, wenn Kleist niederknien läßt, Stühle hin- und herräumen und ständig Damenoberbekleidung an- und ausziehen. Und wäre dies nicht schon genug Illustration gewesen, weist er den Beleuchter an, das Licht zu dämmen (Nacht!). Wer hätte sich Dunkelheit vorstellen können?

Auch das Entdecken der Feinheiten des Textes gönnt Syberberg dem Publikum nicht, als müsse er beweisen, daß er seinen Kleist gelesen hat. In der von Konventionen erstickten Kleistschen Gesellschaft werden alle Regungen verdrängt und folglich wird um die Wette errötet, erbleicht, und in Ohnmacht gefallen. Und Clever muß beim Verdrängungsakt ihre Kaffeetasse in den multifunktionalen Tisch stellen, Deckel drauf - Klappe zu, Affe tot. Der Traum des Vergewaltigers von der besudelten Schwänin - ohnehin ein Fall, über den Freud sich gefreut hätte - wird mit Beethovenscher Streichmusik unterlegt. Der genialste Streich Kleists, die Vergewaltigung mit einem bloßen Gedankenstrich anzudeuten , daß sie gleich unter den Lesesessel fällt, macht Syberberg zunichte: Der Vorhang senkt sich, und Beethoven streicht und streicht. Haben es jetzt endlich alle begriffen?

Vier Stunden wollen ausgefüllt sein. Clever spielt ganz langsam. Macht Pausen. Und sie spricht sehr getragen. Und überstrapaziert Kleists Ironie und verfehlt völlig seinen trockenen Ton, mit dem er die Ereignisse scheinbar dokumentarisch aneinanderreiht. Dankbar empfängt das Publikum alle Pointen, die natürlich gründlich ausgewalzt werden. Als die Marquise Gewißheit über ihre Schwangerschaft hat und verstoßen wird, brechen Chaos, Unordnung und Leid über sie herein, flammt ihr Stolz auf, und wild entschlossen handelt sie. Es wird in die Decke geschossen, Tränen überfluten die Gemächer, Wagen rasseln davon und Boten jagen mit Depeschen über das Land - bei Kleist. Syberberg bevorzugt die Schneckenpost. Die Marquise versinkt zu einer Nebenrolle und der feine „klassische“ Konflikt von Individuum versus überkommenem Gesellschaftssystem spielt sich nur noch auf Lindenstraßenniveau ab.

Wieso das alles so traurig werden mußte, wird klar, wenn sich die Vorhänge senken: Auf ihnen wunderschöne Ansichten von Schloß Friedersdorf o.D. 1811 und dem Friedersdorf der Gegenwart nach seiner Zerstörung. Über den Verlust des Schlosses jammert Syberberg seitenweise im Programm zur Aufführung und scheint mit seiner Inszenierung das Schloß nebst seiner Kultur rekonstruieren zu wollen. Syberberg: „Gemeint ist jener schöpferische Vorgang, der von Verlust weiß, von der abgrundtiefen Ferne, von jener Instanz von mangelnder Identifikationsmöglichkeit, die jene Leere entstehen läßt, in der die Gestalt wird als ein 'ruhendes Sein‘ und aus ihr das Leben und die Welt ohne Nutzen, ohne Bequemlichkeit und ohne jene Gier der augenblicklichen Bereicherung, die von einem Glück weiß, wie ferne Liebespflicht einer uns heute fremden Ordnung der Bilder und Töne, wie sie vielleicht gerade noch erscheinen, wenn wir tief genug graben.“ Und so weiter.

Die bloße Wiederholung des Vergangenen mit verklärtem, rückwärtsgewandtem Blick bringt aber nichts hervor, was damals unerhört war oder was heute unerhört sein könnte. Dafür ist mir meine Zeit eigentlich zu schade.

Claudia Wahjudi

Weitere Aufführungen im Hebbel-Theater am Dienstag, 4. April, Mittwoch, 5. April, Freitag, 7. April, Samstag, 8. April und Sonntag, 9. April 1989, jeweils um 19.30 Uhr