„Die Mullahs haben uns betrogen“

Kleine Freiheiten im Alltag sollen von wirtschaftlicher Talfahrt im Iran ablenken / Kursverfall, Versorgungsprobleme und Schwarzmarkt machen das Leben schwer / Selbst bei den Bazaris sind die Sympathien für das Regime geschrumpft / Liquidierung der Opposition geht weiter / Politische Veränderungen sind nicht in Sicht  ■  Aus Teheran Klaus Otte

Einiges Verbotene ist heute im Iran wieder erlaubt. Bahman frönt uralten Leidenschaften. Der Lautsprecher seines Autos ist voll aufgedreht. In klagenden Melodien wird Kummer und Leid besungen: „Hinweg mit dir, du verlogene Welt...“ Es hatte einer Fatwa, einer religiösen Erklärung von Revolutionsführer Khomeini, bedurft, um dem Bedürfnis nach Unterhaltungsmusik wieder zu Recht zu verhelfen.

Doch diese neue kleine Freiheit im Alltag macht aus Bahman noch lange keinen zufriedenen Staatsbürger: „Mossadegh hat die Erdölindustrie verstaatlicht, die großen Kapitalisten enteignet, die Briten und die Amerikaner aus dem Land gejagt. Mein kleines Geschäft lief. Der Schah war ein Mann der USA. Er hat die Kapitalisten ins Land geholt. Mein kleines Geschäft lief. Aber die Mullahs haben alles kaputt gemacht. Die Geschäfte laufen nicht. Kinder in den Krieg schicken, das konnten sie. Heute reden sie von Wiederaufbau, diese Schurken.“

Es scheint, als wolle Bahman durch seinen Fahrstil den Text des Liedes bekräftigen. Der friedfertige, rücksichtsvolle Kleinunternehmer ist hinter dem Steuer wie vom Teufel besessen. Wie in Teheran üblich, fährt er rücksichtslos und brutal in rasantem Tempo den breiten Boulevard entlang. Die früheren Namen der heutigen Vali-ye-'Asr-Straße symbolisieren die jüngere Geschichte des Iran. Nach dem bürgerlich-nationalistischen Premier Mossadegh wurde die Straße Anfang der fünfziger Jahre benannt, nach seinem Sturz gab Reza Pahlavi ihr den Namen seiner Sippschaft.

Unternehmerklagen

Ein Gastmahl ist angesagt. Bahman hält vor mehreren Läden, um vollbepackt mit Einkaufstaschen zurückzukehren. Auch der illegale Wodka, ein süßlich-lieblicher Traubentrunk, wird nicht vergessen. Mit einer großen Tüte kommt er aus einer Nebengasse zurück. Darin ein Plastikbeutel mit fünf Litern destilliertem Schnaps. „Im Krieg war das Zeug teuer und gefährlich. Iraner versuchten sich in der Alkoholherstellung. Statt Ethyl entstand Methyl, Menschen erblindeten. Nur die Armenier verstehen sich aufs Destillieren. Ihre Ware ist sauber und - Allah sei Dank billig.“ Bahman wohnt im Norden der Stadt, dort, wo die besseren Wohnviertel von Teheran angesiedelt sind. Eine Villa inmitten eines weitläufigen Gartens, teure Garnituren, Kristalleuchter und ein neoklassischer Spiegel schmücken das Wohnzimmer. Der Mittfünfziger deckt den Tisch und bereitet das Abendessen vor. Eine elegant gekleidete Dame - ohne Kopftuch und Tschador - wird als Ehefrau vorgestellt. Wir reden über die Geschäfte. Klagen über das nie enden wollende Unternehmerleid. Doch nicht die Löhne bedrücken Bahman, der sechs Lohnarbeiter beschäftigt. Er hat keine Möglichkeit, die für seine Produktion benötigten Vorprodukte legal zu importieren. „Die Devisen sind aufgezehrt. Die Herren haben alles in Waffen gesteckt. Was ein Durchschnittsbürger so braucht, kommt illegal über die Grenze.“

„Ich halte es hier nicht mehr aus“, klagt seine Frau. „Wir leben nur noch in unseren vier Wänden. Ab und zu kommen Freunde. Video und Musik im eigenen Haus sind unser einziges Vergnügen. Zwar wurde nach dem Krieg alles besser. Mehr Videos und mehr Musikkassetten kommen ins Land. Ich war auf dem Konzert der Sängerin Sima Bina in der Talar-e-Rudaki -Konzerthalle - die Eintrittskarten gab es zu horrenden Preisen auf dem Schwarzmarkt. Doch trotz alledem, es ist die Hölle.“ Das Ehepaar will auswandern. Nach New Orleans, wo Verwandte leben.

Das islamische Regime hatte in der Vergangenheit mit unerbittlicher Härte nicht nur die politische Opposition verfolgt, sondern auch jene Reichen, die den „dekadenten westlichen Lebensstil“ pflegten. Heute hat sich die Situation gewandelt. Nach dem Waffenstillstand hat sich das Regime „Wiederaufbau“ und „Rekonstruktion“ auf die Fahnen geschrieben. Unternehmer und Techniker sind gefragt. Parallel zur Liquidierung der politischen Opposition in den Gefängnissen läßt man die Zügel im Lebensalltag lockerer. Auf daß Leute wie Bahman und seine Ehefrau Musik hören, Videos schauen und im Lande bleiben. Das Kalkül scheint nicht aufzugehen.

Bestechliche Revolutionsgardisten

Bei der Rückfahrt ins Hotel geraten wir in eine Kontrolle. Pasdaran, Revolutionswächter, haben die Straße gesperrt. Dem Pasdaran, der dem weiß-grünen Toyota-Jeep entsteigt und mit ernster Miene nach unseren Ausweisen fragt, sind noch keine Barthaare gewachsen. Zu Beginn des blutigen Golfkrieges mag er neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. In der islamischen Republik ist er großgeworden, Hirnwäsche mit Propagandasprüchen der Mullahs. Unsere Alkoholfahne ist offensichtlich zu penetrant. „Ihr habt getrunken, mitkommen.“ Mein Begleiter schiebt eine 50-Dollar-Note in seinen Ausweis und reicht sie dem Revolutionswächter. „Weiterfahren“ - die Angelegenheit ist erledigt. „Diese Hunde sind alle so“, kommentiert der Taxifahrer. „Große islamische Sprüche für die Armen im Fernsehen, selbst aber Schmiergelder nehmen.“

Durch den Verkauf von Zigaretten in Teheran fristet ein Krüppel mit Bauchladen sein Dasein. 90 Toman kostet bei ihm eine Packung der Marke TIR. 30 Toman ist der offizielle Preis. Doch nur die Privilegierten des Regimes können selbst zu diesem Preis einkaufen. Sie sind es auch, die in größeren Mengen die Zigaretten aufkaufen und über den Schwarzmarktring vertreiben. „Ich verdiene kaum etwas an diesen Zigaretten. Unsere Oberen machen das Geschäft. Das Leben wird immer schwerer“, erzählt der Mann. „Es ist wie bei Tee, Streichhölzern und Zucker. Die Reichen besorgen es sich auf dem Schwarzmarkt. Wir sind die Dummen.“

Die Nachkriegsinflation hat in dem Land, das nach wie vor den Großteil der Lebensmittel gegen harte Erdöldevisen importieren muß, enorme Ausmaße angenommen. Die Preise für Obst und Gemüse haben sich seit dem Waffenstillstand vervielfacht. Während auf der Vali-ye-'Asr-Straße modernste Stereoanlagen und Computergeräte dargeboten werden und die eleganten Damen der Teheraner Gesellschaft in den Boutiquen des Bazar-i-Sefawije bummeln gehen, verteuern sich Grundnahrungsmittel von Woche zu Woche. „Die Mullahs haben uns betrogen“, sagt der Zigarettenverkäufer.

Man könnte den Männerpulk auf der Carah-i Estanbul für eine kleine Demonstration halten. Doch die Taschen der Männer sind mit Banknoten vollgestopft. Hier auf offener Straße im Zentrum Teherans ist die verbotene, doch geduldete Devisenbörse. Der Dollar steigt von Tag zu Tag. Nach dem Waffenstillstand verhießen die iranischen Politiker den Bürgern, daß der Dollar fallen werde. Zum eigenen Wohl sollten die Iraner ihre Dollars loswerden. Eine kurze Zeit nach dem Waffenstillstand fiel der Dollar tatsächlich. Doch es sollten die Friedenszeiten sein, die dem Dollar den Höhenflug bescherten. Der Wechselkurs hat sich im Laufe der vergangenen sechs Monate verdreifacht. Ruinierte, bankrotte Geschäftsleute waren die Opfer des guten Glaubens an Politikerversprechen. Dutzende begingen Selbstmord.

Fromme Kriegsgewinnler

Die grünen Fahnen der islamischen Republik wehen über dem bedeckten Bazar. In diesem Gassenlabyrinth hatte einst der Ayatollah Khomeini seine militante Anhängerschaft. Die Bazaris hielten ihm auch die Treue, als es nicht mehr gegen den Schah, sondern gegen die Feinde von links ging. Ich frage einen Kammverkäufer nach dem Grund dafür, daß ein Teil der Läden geschlossen hat. „Schon wieder ist ein Mullah gestorben. Gedenkfeier für Mohammed Khazim, wer immer das auch sein mag. Seit die Mullahs an der Macht sind, hat der Bazar sechs Monate im Jahr geschlossen. Ein Todestag eines Kriegshelden oder Mullahs findet sich immer. Ich habe Frau und Kinder. Ich kann es mir nicht leisten, den Laden zu schließen. Das können nur die frommen Kriegsgewinnler.“

Fromme Kriegsgewinnler, als solche gelten jene paar hundert reichen Bazaris, die mit dem Regime eng liiert sind und über eine Importlizenz verfügen. Mit der Lizenz in der Tasche können diese Großhändler die begehrten ausländischen Konsumgüter einführen. Angesichts der immensen Profite, die winken, scheint es nicht zuviel verlangt, daß sie brav zum Gebet erscheinen und zu Todesgedenktagen von Mullahs das Geschäft schließen. Doch die Masse der Bazaris ist mittlerweile vom Regime enttäuscht. Der Boom nach dem Waffenstillstand blieb aus. Die inflationäre Entwicklung bei sinkender Kaufkraft ließ den Absatz stocken.

Die Partner der frommen Kriegsgewinnler hocken in der Lobby des Nobelhotels Evin. Manager mit Aktenkoffern, englische, französische und deutsche Stimmen. Gespräche über Waffen, Rohre, Petrochemie. „Verflucht sei die Rushdie-Geschichte“, höre ich in norddeutschem Dialekt am Nebentisch. Doch trotz fehlender Drinks an der Hotelbar ist die Stimmung gut. Der staatliche Dirigismus im Außenhandel soll ein Ende haben, hat die iranische Regierung versprochen. Die ungläubigen Kriegsgewinnler hoffen auf die fette Friedensbeute.

Knäste voller Krüppel

Die Luxussuiten des Fünf-Sterne-Hotels Evin blicken auf das gleichnamige Gefängnis. Der berüchtigte Kerker Evin wurde zu Pahlavis Zeiten in einen Berg gehauen. Der Kerker wird nunmehr von islamischen Folterexperten genutzt: Pahlavis Geschenk für die selbsternannten irdischen Herrscher Allahs, die andernorts die Denkmäler der Schah-Ära abreißen. Allein in den vergangenen Monaten sind Tausende von oppositionellen Gefangenen ermordet worden. „Aus dem Kerker Evin kommst du nur als verstümmelte Leiche raus“, sagt Behzad, der wenige Wochen zuvor aus dem Kasr-Gefängnis entlassen wurde. „In den ersten Wochen ist die Folter ununterbrochen. Du wirst Tage ans Kreuz geschlagen, abwechselnd hängen sie dich mehrere Stunden an einem Arm auf. Das Gefängnis ist voller Krüppel. Nach den ersten Wochen geht es. Sieben Zuckerstücke, fünf Zigaretten pro Tag. Das Essen mußt du runterwürgen, um zu überleben. Mittwochs ist Besuchstag für die Frauen, freitags für die Männer. Früh morgens hörst du Schüsse Hinrichtungen. Doch im Vergleich zu Evin ist das Kasr -Gefängnis ein Paradies.“ Zwei Jahre verbrachte Behzad in Haft, bis ihn ein religiöser Richter auf freien Fuß setzte. „Es hat mich ein Vermögen gekostet. Mit einer Million mußte ich den Kerl schmieren.“

Während die Heroinhändler öffentlich hingerichtet werden, erfolgt die Ermordung der Regimegegner klammheimlich in den Gefängnissen. Nach dem Waffenstillstand glaubt niemand mehr an die Legende von Spionen und Agenten Saddam Husseins, die hingerichtet werden. Das Zuckerbrot für die Massen sind die Freiheiten im Lebensalltag, die von Mord, Terror und dem wirtschaftlichen Abstieg ablenken sollen.

Gab es Hoffnung auf eine innenpolitische Veränderung, so muß sie nach dem Rücktritt des designierten Khomeini -Nachfolgers Montazeri fürs erste wieder begraben werden. „Solange es 600.000 Mullahs gibt, wird Leid und Elend für den Iran fortbestehen. Man hätte sie alle zu Anfang abmurksen sollen. Glauben sie mir, mein Herr, in dieser Stadt kann man nur als Schizophrener leben“, sagt der Taxifahrer, der mich zum Flughafen fährt.

Auf einer Straßenmauer prangt das Konterfei Khomeinis. „Ich habe mein kurzes Leben meinem Volk gewidmet“, verkündet der Führer. Die Farbe blättert ab. Der Fahrer legt eine Kassette auf. Die Melodie ist mir bekannt: „Hinweg mit dir, du verlogene Welt...“