Die Welt als Köder

■ Fernsehen in der Neuen Welt. Ein satirisches Protokoll

Es ist 19 Uhr. Bei ABC, einem der größten Privatkanäle, steht auf dem Programm die Tagesschau. Der Moderator heißt Peter Jennings, und er ist offenbar sehr beliebt. Indessen ist er gar nicht da: Urlaubsweise wird er von einem Kollegen vertreten. Aber die Nachrichten bleiben, was sie sind: „News“ mit Peter Jennings.

Exakt 19 Uhr also beginnt Peter Jennings alias Mr. X im Kreise einer hübschen schwarzen Kollegin (hier ist inzwischen für Proporz gesorgt!) und zweier weißer Kollegen für das Wetter und den Sport seine Nachrichtensendung. Aber er beginnt sie erstaunlicherweise nicht eigentlich mit Nachrichten, sondern mit einer Vorschau auf sie, das heißt: auf die attraktivsten unter ihnen. Heute ist die Nachrichtenlage anscheinend etwas dürftig: ein bißchen heimische Politik aus Kongreß und Senat, etwas Weltpolitik, im übrigen sind „action news“ durchaus beliebter: Terrorakte, Mordfälle, Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Sanitäter, Ambulanzen, Bahren, Polizisten, Feuerwehren. Und wenn es ein ganz besonders guter Tag ist, dann steht vielleicht die Entführung einer US-Maschine auf dem Programm und eine Vergeltungsaktion gegen den allgegenwärtigen Gaddafi oder die bösen Sandinistas im Raum.

Die Welt als Köder, vor allem die Welt der Katastrophen. Sie ist am besten geeignet, die Fernsehfische bei der Angel zu halten. Und am schönsten ist es, wenn die nervenspannenden Sirenen der Nachrichtensendungen die Grenze zu den Krimis verwischen und sich mit denen, die draußen ohnehin immer zu hören sind, vermischen. „Join us“, „schau bei uns zu“, lautet dann besonders überzeugend die lächelnde Einladung der schwarzen Schönheit. Freilandhuhn

19 Uhr 1, nach der Vorschau, kommen die Nachrichten - denkt man. Weit gefehlt: Nur der Appetit auf sie, die Vorlust ist angeregt. Das reicht für die ersten drei Minuten Reklame. McDonald's preist seine erlesenen, offenbar in Freilandeinsamkeit und -freiheit saftig gewordenen Hähnchenschenkel an. Coca Cola will mit CocaColaClassic an Pepsi verlorene Marktanteile zurückgewinnen. Pepsi schießt alsbald zurück, weil es weiß, daß alles, was jung und frisch ist im Lande, auf seiner Konsumseite steht. Dann Nissan, Toyota, Isuzu, unterbrochen von Kosmetik, fortgesetzt mit Hygiene, kulminierend in Pharma.

Diese ersten drei Minuten genügen, um mich mit dem ersten Typ der Commercials bekannt zu machen: der quantitativ vorherrschenden simplen und stupiden Produktreklame, die in der schönen Neuen Welt auch nicht aufregender oder gar besser ist als bei uns, weil sie die vergleichende Reklame, die wechselseitige Warenkritik nicht verbietet. In der Regel spielt sie sich auf einem nicht einmal mehr beklagenswerten Niveau ab: kaum Witz, nicht einmal Unterhaltung, selten ein Einfall. Daher unter dem Diktat des „time is money“ die Wiederkehr des Marktschreiers von ehemals. Die scheinbar seriösere Reklame von Firmen, Sendern, Organisationen, die unter dem weiten Dach ihres speziellen Namens diverse Produkte und Dienstleistungen offerieren, gehorcht prinzipiell demselben Typ.

19 Uhr 4 ist es dann soweit: Nachrichten. Etwas über Südafrikasanktionen, Experten zur Goldpreisentwicklung, Kongreßstatements, Senatsanhörungen, ein Regierungssprecher weiß aber, daß Sanktionen nur den Leuten schaden, denen man eigentlich helfen will. Wen meint er nur...?

19 Uhr 8, nach dem vierminütigen Nachrichten-Marathon, blendet Kellog's mit seinen verschiedenen Flakes auf höchst erfreuliche Frühstücksempfindungen zurück. Burger-King kontert auf McDonald's. Dann Nagellack und Toilettenpapier. Schließlich ein trauriger Mittachtziger, der bedauerlicherweise dem Tod entgegendämmert, nach dem Genuß von 7up-Limonade aber förmlich vor Vitalität explodiert.

19 Uhr 11: Fortsetzung der Nachrichten? Eine glatte Falschmeldung. Statt dessen eine weitere Vorschau auf das weitere Abendprogramm, die zweifellos Hinreißendes verspricht, unter anderem für 21 Uhr einen äußerst spannenden Spielfilm, zwei volle Stunden. Vorlustsystem

Doch gut Ding will Weile haben; inzwischen zeichnet sich Typ II der Commercials ab: Wie es schon an den „News“ zu beoachten war, ist das die „short- or long-distance“, die kurz-, lang- oder auch mittelfristige Reklame eines Senders für die eigenen Sendungen, seien es nun die der kommenden Woche, des laufenden Tages-Programms oder die weiteren Teile ein- und derselben Sendung. Dieser zweite Typ ist vielleicht der interessanteste, weil er subjektiv das tiefe Mißtrauen der Fernsehproduzenten in ihre eigenen Produkte und deren Konsumenten, objektiv den permanenten Zwang, den Zuschauer beim Programm zu halten, offenbart. Ein Sender, der um 19 Uhr 11 annonciert, was uns um 19 Uhr 30, um 20 Uhr 15 oder um 21 Uhr erwartet, ist offensichtlich zur Erregung immerwährender Vorlust verdammt. Zugleich legt dieses „Vorlustsystem“ seine eigene Paradoxie, seine „schlechte Unendlichkeit“ (Hegel) bloß: Sendungen machen Reklame für Sendungen, die ihrerseits Reklame machen für Sendungen, die Reklame machen. „A rose is not a rose is not a rose...„

19 Uhr 12: immerhin Fortsetzung der Nachrichten, die umstrittene Nominierung des obersten Bundesrichters, die Anhörung eines Komitees. Doch bereits 19 Uhr 15 wieder einer der Schreihälse von der Automobilindustrie. Auch McDonald's läßt sich nicht lumpen. Zum zweiten Mal in fünfzehn Minuten tauchen saftigste Hähnchenschenkel, umgeben von den gesündesten Salaten, in die lieblichsten Saucen ein.

19 Uhr 18: ein erneuter Fortsetzungsversuch der Nachrichten. Vorwahlkämpfe in einigen Bundesstaaten. Ein Drogenprozeßbericht, bei dem aber gezeichnet werden muß, weil drinnen nicht gefilmt werden darf. Trotzdem: Wir haben Bilder, auch wenn das nur Schablonen sind. Dann eine amtliche Einladung zum Anlegen von Sicherheitsgurten. Ein Hilfsprogramm für asiatische Kinder.

19 Uhr 22: wieder eine Vorschau auf die Raritäten des kommenden Abends. Im Anschluß daran das Wetter, das, unterbrochen nur von einer Möbelschau und Heerscharen von Kkakerlaken, die mühelos von einem Spray vertrieben werden, in die Baseball- und Football-Ereignisse des Tages übergehen kann.

Schließlich, kurz vor 19 Uhr 30, wieder „Peter Jennings“ alias Mr. X mit seinem Schlußwort und dem unwiderstehlichen Lächeln seiner Kollegin: „Stay with us! Stay together!“ Bleib bei uns, lieber Fernseher, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich schon geneigt...

Stay together! Stay with uns! Programmtreue ist angesagt. Sie ist das Pendant zum stets befürchteten Abfall, zur drohenden Untreue der Konsumenten. Die Fernsehwelt, die in Wahrheit auf dem Vorlust-, auf dem Ködersystem basiert, erhält ihren menschlich-emotionalen, gleichsam familiären Heiligenschein.

Ich bleibe zunächst programmtreu, doch keine Erholung ist mir vergönnt. Denn im Reich der Commercials gibt es keine leeren Werbeflächen, keine Zeitverschwendung. Ich suche Abwechslung, und das ist nicht schwierig. Denn die kümmerliche Dreizahl der Programme, die mir noch aus dem ärmlichen Mitteleuropa in der Erinnerung ist, wird hier um ein Vielfaches überboten. Polyvision

Amerika, du hast es eben besser. Denn hier ist man televisionär nicht zu einer kümmerlichen Bi- oder Trigamie verdammt - hier ist man Polygamist, hier ist man Polyvisionär. So sehr auch jeder Kanal für sich wirbt, im Konkurrenzkampf aller gegen alle, im Supermarkt der Möglichkeiten, wo immer irgendwo, wenn nicht das größere Gut, so doch die Versprechung des kleineren Übels lockt, löst sich die Programmtreue früher oder später in die Polyvision auf.

Gegen 20 Uhr 15 stoße ich auf einen Kanal, dessen ganzes Programm dem professionellen Ringen, wir würden sagen: dem Catchen, gewidmet ist. Die stärksten Männer und die eindrucksvollsten Frauen kämpfen hier buchstäblich jeden Abend um die Weltmeisterschaft. Doch ich werde fürchterlich enttäuscht: Selbst die ausgesuchtesten Brutalitäten, die die Herzen der Zuschauermassen spürbar höher schlagen lassen sie sind jämmerlich gestellt und werden nur noch von den anschließenden Feierlichkeiten überboten, bei denen eines der erfolgreich gemästeten Muskelpakete im Stile des Sonnenkönigs gekrönt wird: Versailles in Las Vegas. Immer zu Haus

Ich korrigiere meinen Eindruck von der televisionären Polygamie. Die Wahlfreiheit ist bloß scheinbart. Wo wir auch hingehen, welchen Knopf wir auch drücken, wir bleiben immer zu Hause.

Trotzdem: Heute abend bleibe ich dabei. Heute abend schweife ich weiter. Und es sei gerechterweise nicht verschwiegen: Es gibt auch „Public TV“, nichtprivate Programme ohne Commercials und zum Teil mit hervorragendem Niveau: Information, Konzerte, Theater, Diskussionen, „Talk -Shows“, die in ihrer Lebendigkeit, Offenheit, Widerspruchsfreude und vor allem: in ihrer selbstverständlichen Unausgewogenheit ihre bundesdeutschen Pendants weit in den Schatten stellen. Aber auch diese Kanäle kommen nicht ganz ohne Reklame für ihre Sponsoren aus. Und wenn sie, manchmal über Wochen, individuelle Unterstützung unter ihren Interessenten zu finden suchen, so werden auch ihre Programme zu einer permanenten Selbstreklame.

Heute, Gott sei's geklagt, ist es leider so. Und kurz vor 21 Uhr kehre ich in Erwartung des hochdramatischen Spielfilms reumütig zu ABC zurück. Doch dort erwartet mich, es ist erst 20 Uhr 58, ein Commercial mit einem sonst ganz vernünftig wirkenden älteren Herrn, der mich über die immensen Vorteile des privaten kommerziellen Fernsehens aufklärt: Man denke nur, man müsse Gebühren zahlen; und man bedenke, daß man den folgenden Film ganz umsonst sieht...

Ich erinnere mich vage: Dieses Kapitel hatte ich schon erledigt. Immerhin sehe ich jetzt, daß es noch einen dritten Typus von Commercial gibt: die gleichsam reflexiv gewordene Reklame, die Reklame für die Reklame macht und uns von den enormen Vorteilen des „Commercial„-Systems insgesamt wissen läßt. Allerdings sehe ich zu meiner kaum noch zu verleugnenden Freude auch, daß das „Commercial„-System offenbar andauernder Selbstreklame bedarf.

Um 21 Uhr aber ist es endlich soweit: Es beginnt der Film. Doch beginnt er wirklich? O nein, er beginnt nach den inzwischen schon altvertrauten Mustern mit einer Vorschau auf alles das, was hier in Kürze zu erwarten ist. Indessen ist das in der Tat vielversprechend: ein Polit-, ja, man könnte sagen, ein Sozio-Thriller, in dem ein liebendes traditionelles Paar in die Fänge einer modernen Amazonen -Organisation gerät. Nichts Geringeres als Anti-Emanzipation also. Und auch, was die Programmgestaltung betrifft, traut man den kurz zuvor noch so leidenen Augen kaum: Eine ganze Viertelstunde, in Worten: fünfzehn Minuten vergehen ohne lästige kommerzielle Störungen! Man hat Zeit, sich zu engagieren, sich in die zweifellos spannenden Story verwickeln zu lassen. Doch das ist nicht etwa dem besonderen anti-emanzipatorischen Erziehungswert des Filmes zuzuschreiben. Das folgt selbstverständlich wieder der Methode: die Welt als Köder, für die jede Form emotionaler Anteilnahme Bestandteil und Garantie einer Einschaltquote ist. Und nur nach diesen Quoten bemißt sich ebenso selbstverständlich die Attraktivität eines Senders für die „Commercials“.

So ist es ebenso paradox wie plausibel, daß der laufende Film anfänglich nur selten und auch dann nur kurz unterbrochen wird und allein in Situationen, wo über spannende oder gar erregende Momente die Programmtreue des Zuschauers gesichert ist. Liebesszenen zum Beispiel, überraschend rar geworden im viktorianisch prüden USA -Amerika, eignen sich hervorragend, um wieder auf die Vorteile von Hähnchenschenkeln und Tampons zurückzukommen. Wenn es aber um Leib und Leben geht, wenn die Waffen im Anschlag liegen oder sich gar die Leichenberge häufen - wie lacht dann dem Fernseher selbst noch auf den Müllhalden der Commercials das Herz! Köderprogramme

Sehr neutral ausgedrückt: Commercials sind „inkompatibel“, umweltunverträglich - und damit ein überzeugendes Symptom der Zivilisation, der sie entstammen. Bestenfalls verhalten sie sich indifferent, meistenteils gegensätzlich, oft genug schreiend dissonant zu ihrem Kontext. Zusammenhänge sind nur dazu da, um von ihnen ausgenutzt und aufgelöst zu werden. Sie stören die Konzentration: Sachlichkeit ist ihnen fremd. Sie zerstören alle Anteilnahme, jede länger dauernde emotionale Identifikation. Und so potenzieren sie programmintern noch jene wechselseitige Destruktion der Informationen und Gefühle, die von der Additionsmaschinerie Fernsehen ohnehin betrieben wird. Niemand will die Commercials eigentlich; und damit gleichen sie immerhin einem Teil der Produkte, für die sie Reklame machen. Doch eben deswegen brauchen sie die Verbindung mit dem, was uns eigentlich interessiert. Also werden sie in das eigentlich Interessierende untrennbar, unvorhersehbar, unvermeidbar eingespeist. (Was waren das noch für glückliche Zeiten, als wir in den Kinos der alten Welt, wenn auch um den Preis eines schlechten Platzes, die vorhersehbaren Reklameouvertüren vermeiden konnten...) Aus ihrer Perspektive aber sind sie das Eigentliche; und das, worauf es uns ankommt, ist bloßer Aufhänger. Kurz: Nicht sie sind die Beigaben, sondern die Programme sind es: Verpackung und Köder. Die Welt als Köder - das heißt: Nur mit dem Köder kommt der Angler an den Fisch. Der Fisch aber will den Köder und verschluckt den Haken. So hat diese Fernseh-Köder-Welt ihren Haken.

Und so soll auch dieses Protokoll das Ende dieses Fernsehabends nicht verschweigen. Es versteht sich, daß sich mit zunehmender Filmdauer auch die Commercials wieder häufen: Waren auf Waren, Bild auf Bild, Geschrei auf Geschrei. Auf diesem Wege wird die erstaunliche Menge von Filmen mit zweistündiger Spieldauer erreicht. Das Tempo beschleunigt sich, und kurz vor dem Finale, wo alles auf eine Lösung hindrängt, ist es endlich soweit: Die Commercials haben die größeren Programmanteile erreicht. Sie sind es jetzt, die von dem sogenannten eigentlichen Programm unterbrochen werden.

Die folgende Nacht entschädigt mich indessen für fast alles. Zwar schlafe ich erst spät ein. Und meine Träume sind womöglich noch wirrer als sonst. Gegen Morgen aber verdichten sie sich zu einem Einfall: Ich melde beim US -Patentamt eine Erfindung an: den „Anti-Commercial“, auf deutsch: den Reklame-Filter-Fernseher (RFF), der automatisch alle Reklame erkennt und aussondert. Zwar überkommt mich kurz die alpdruckartige Erkenntnis, daß auch sein Verkauf anfänglich Reklame benötigen könnte. Aber - ich bin beruhigt, er benötigt sie, nur ein für allemal. Denn er ist selbstkritisch konstruiert. Er wird auch die Reklame für sich filtrieren...

Ludger Lütkehaus