: Die Revolution und das Ende der Utopie
■ Man gedenkt nicht dessen, was stattgefunden hat, sondern dessen, was niemals mehr stattfinden wird
Jean Baudrillard
Es gibt heute zwei Arten von Ereignissen: einerseits die Wahlen und Gedenkfeiern, andererseits Extremphänomene, die aus dem Rahmen des Normalen heraustreten, Viren und den ganzen Planeten umspannende Kettenreaktionen (Aids, Terrorismus, Börsenkrach, Aktienmanipulation, Computerviren). Man könnte die einen politische und die anderen transpolitische Ereignisse nennen. Die großen politischen, historischen oder ideologischen Ereignisse sind im Rückgang, sie sind dabei, sich im Gedächtnis zu vergraben und in anderer Gestalt wieder aufzuleben, nämlich als Gedenkfeier. Ein regelrechter Erinnerungszwang beherrscht unser kulturelles und politisches Leben, fast könnte man von einem Virus des Gedenkens sprechen. Man feiert selbst schon den Jahrestag eines Ereignisses, das gar nicht stattgefunden hat, eines virtuellen Ereignisses wie den des Börsenkrachs des vorletzten Jahres. In Frankreich sind wir besonders verwöhnt: Der Sozialismus, weit davon entfernt, sich in die Zukunft zu projizieren, richtet all seine Anstrengungen auf das Gedenken, und alle Monumente, alle großen Projekte dieses Regimes sind Mausoleen, geradezu Grabmale: die Pyramide im Louvre, die „Grande Arche“ im Vorort La Defense, alle Museen, die hier und da entstehen. Und natürlich haben wir die Revoluton, das politische Ereignis par excellence, dessen 200.Jahrestag die perfekteste Simulation von Ereignishaftem zu Ausgang dieses Jahrhunderts sein wird.
Mit diesem Gedenken hat es dasselbe auf sich wie mit dem Photo, von dem Barthes sagte, daß es Abwesenheit feiert und bedeutet. So bedeutet auch der 200.Jahrestag im politischen Vorstellungsraum das definitive Ende der Französischen Revolution. Es gibt zwei Formen von Vergessen: entweder das langsame oder gewaltsame Auslöschen der Erinnerungen oder, im Gegenteil, die aufsehenerregende Ankurbelung, den Übergang des historischen Raums in den der Werbung, wobei die Medien, alle Medien zum Ort eines Werbefeldzugs werden, der nicht mehr auf die Zukunft, sondern die Vergangenheit gerichtet ist. Wir sind dabei, uns mit einer Masse von Bildern aus der Werbung ein synthetisches Gedächtnis zu fabrizieren, das uns Urszene und Ursprungsmythos ersetzt, und das uns vor allem vom realen Ereignis der Revolution entbindet. Revolution steht in Frankreich nicht mehr auf der Tagesordnung. Louis Mermaz schreibt dazu: „Ein Land wie Frankreich lebt in einer heute anerkannten Tradition, der der Französischen Revolution. Das ist ein unbestrittener Besitz. Revolution steht in Frankreich nicht auf der Tagesordnung, weil die große Revolution stattgefunden hat und seit zwei Jahrhunderten als Modell für alle Revolutionen in der Welt gedient hat... All unser Handeln im heutigen Frankreich ist darauf gerichtet, eine Revolution zu verhindern. Ich sage es laut und deutlich: Wir sind keine Revolutionäre, da die Lage nicht revolutionär ist.“ Das heißt: Die Revolution als unbestrittener Besitz, als Denkwürdigkeit bedeutet das Ende der Geschichte. Das Ereignis hat stattgefunden, ist abgeschlossen. Und wir stützen uns heute auf dieses Ende der Geschichte, unser ganzes politisches System gründet sich auf dieses Ende der Geschichte, weshalb wir auch so versessen auf Gedenkfeiern sind. Nicht nur, daß es uns nicht mehr gelingt, uns eine neue, eine eigene Geschichte zu schaffen (alles derzeitige politische Handeln zielt im Grunde darauf ab, Frankreich wie ein gefährdetes Meisterwerk zu schützen oder zu restaurieren), uns gelingt es nicht einmal, für eine symbolische Reproduktion der Geschichte zu sorgen. Wir haben auf die Weltausstellung '89 in Paris verzichtet - sie zumindest wäre ein modernes und lebendiges Ereignis gewesen. Statt dessen bauen wir ein Opernhaus an der Bastille. Eine lächerliche Rehabilitation: Sicherlich, das Volk wird sie nicht mehr im Sturm nehmen müssen, zwei Jahrhunderte danach setzt man ihm königliche Musik vor. Der reine Hohn! Das Volk wird übrigens nichts weiter davon haben: Die Gebildeten sind es, die hierherkommen und somit die Regel bestätigen werden, daß die Privilegierten mit Vorliebe Stätten, an denen andere umgekommen sind oder gekämpft haben, durch Kunst und Vergnügungen heiligen. Diese Bastille-Oper ist ein Projekt der „Linken“, und dennoch könnte man sich kein schöneres Grabmal der Revolution denken (Darüber hinaus ist die Architektur scheußlich: Das Volk hat kein Glück!). Kann man das Volk dazu anregen, diese Oper am symbolischen Tag des 14.Juli 1989 im Sturm zu nehmen und niederzureißen? Kann man soweit gehen, die blutigen Köpfe unserer modernen Kulturbürokraten aufgespießt herumzutragen?
Eines ist sicher: Selbst das Erbe von '89 (ganz zu schweigen von dem der Jahre '92 oder '93!) ist gefährlich. Die Projektion des Films von Wajda über Danton (1983) löste selbst bei den Sozialisten Schweißausbrüche aus. Und wenn man daran denkt, daß unsere Politiker dastehen und sich fragen, ob sie wohl, ja oder nein, '89 (1989) eine Ausstellung machen sollen... Haben sich denn die Menschen von '89 (1789) gefragt, ob sie in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage und der Situation im Königreich diese Revolution machen sollten? Sie wußten nicht einmal, daß sie dabei waren, eine Revolution zu machen, und trotzdem haben sie sie gemacht. Das ist ein sehr gefährliches politisches Beispiel und muß um jeden Preis umgangen werden. Man verfällt auf eine utopische, völlig unwahrscheinliche, aber so verführerische Hypothese: und wenn nun in der Zwischenzeit, noch vor der Gedenkfeier, eine weitere wirkliche Revolution dazwischenkäme? Natürlich ist das ausgeschlossen, würde dies doch die Gedenkfeierlichkeiten gefährden. Also, bitte schön, keine Revolution! Hier ist der Punkt, wo sich Gedenkfeiern und Ehrungen mit den Wahlen und Umfragen treffen: Es wird alles daran gesetzt, damit das Wirkliche niemals wieder stattfindet.
Wir machen nicht mehr Geschichte, wir sind mit unserer Geschichte ausgesöhnt: So sieht die moralische Verfassung der breiten Masse in Frankreich aus. Und wir würden so gerne die ganze Welt an dieser Aussöhnung teilhaben lassen, so wie wir einst die revolutionären Ideale (und Armeen) haben ausstrahlen lassen. Die Zeiten haben sich geändert. Heute haben wir eine bestimmte „Sicht“ der Revolution, eine ganz und gar pietätvolle Sicht, die der Sprache der „Menschenrechte“ folgt, eine nicht einmal nostalgische Sicht: Eine Sicht, die in der Sprache der postmodernen intellektuellen Trägheit wiederverwertet wird. Eine Sicht, die Francois Furet, unserem zum „König der Französischen Revolution“ erhobenen Historiker, dem Chefinterpreten der Gedenkfeiern '89, erlaubt, Saint-Just schlicht und einfach aus dem „Wörterbuch der Revolution“ herauszustreichen, unter dem Vorwand, daß Saint-Just nichts als überschätzte Phrasendrescherei sei. „Im übrigen“, so Furet, „waren die Männer der Revolution nicht wirklich Politiker großen Formats, allein das Ereignis war groß.“ Dies ist also der Mann des Gedenkens, ein gutes Beispiel für alle, die nur an den umstrittenen Errungenschaften, den Resultaten der Revolution festhalten wollen, und die sorgfältig deren Ruhm auslöschen. Man vergißt dabei, daß ein Ereignis wie dieses sich auch im Ruhm und für den Ruhm, einschließlich dem der Schreckensherrschaft vollzogen hat, und daß jemand, der in der Lage ist, Saint-Just zu ignorieren, das Gefühl des Ruhms und die Aura des Ereignisses, die uns heute vollständig verloren gegangen ist, in keinem Funken mehr nachempfinden kann.
Was uns sehr viel näher steht in diesem Jahr: Es war sehr erfreulich, das vollkommene Scheitern des Gedenkens an den Mai '68 feststellen zu können. Das beweist, daß es glücklicherweise noch Ereignisse gibt, die dem Verhängnis des Gedenkens entrinnen. Man kann der Französischen Revolution nur dasselbe Schicksal wünschen. Lassen wir die Historiker die Geschichte begraben, lassen wir die Politiker die Politik begraben und bewahren wir uns die Sehnsucht nach demEreignis und dem Ruhm.
Man gedenkt nur einer Sache, die man in der Erinnerung reingewaschen hat, das heißt, deren historische Auswirkungen man neutralisiert hat.
Man gedenke nicht dessen, was stattgefunden hat, sondern dessen, was niemals wieder stattfinden wird. Und wenn dies nicht mehr stattfinden darf, so deshalb, weil es in gewissem Sinne hervorragend gelungen ist, weil es sich vollständig verwirklicht hat, es alltäglich geworden ist, aber die Idee davon ist verloren. Diese bedeutet das radikale Scheitern der gesamten Hegelschen Perspektive, die in der Verwirklichung der Idee bestand. Und gleichzeitig bedeutet dies das paradoxale Scheitern der Moderne. Ebenso steht es mit dem Fortschritt: Der Fortschritt geht weiter, aber die Idee des Fortschritts ist verschwunden. Die Produktion geht weiter, und immer besser, aber die Idee der Produktion als Quelle sozialen Reichtums ist verschwunden. Dies ist das banale Schicksal aller großen Ideale, die im Zeichen dessen, was man die Postmoderne nennen könnte, zu einer umso aufsehenerregenderen und unwiderstehlicheren Erfüllung verdammt sind, als jegliche Transzendenz, Negativität, Widersprüchlichkeit und Idealität daraus verschwunden sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen