Stumme Mauerbauer 1989

■ An der Bernauer Straße im Wedding wird zur Zeit die Mauer 50 Meter in den Westen gerückt / Ein Ökotop wird zur kahlgeschlagenen Grenzanlage gemacht

Hier ist die Welt zu Ende. Dead End. Kalt pfeift mir der Wind um die Ohren, Staub fegt über die Straße. Auf der anderen Straßenseite, keine fünf Schritte entfernt, beginnt das Niemandsland. Von dort starren Grenzposten der DDR ins Leere, in den Westen. Schweigsame Wächter im Kampfanzug mit Sprechfunk und Kalaschnikow. Mit leicht gespreizten Beinen beobachten sie Zuschauer in West-Berlin, d.h. sie glotzen auf die andere Straßenseite. Dann wieder werfen sie ein Auge auf die Bauarbeiter, Maurer, Kranführer, die nur einen Auftrag haben: die Mauer zu bauen.

August 1961? Nein, wir befinden uns im April 1989. Ort des Geschehens: der alte Eberswalder Güterbahnhof im Wedding in der Nähe der Bernauer Straße. Früher, vor dem Mauerbau, fuhr hier die alte Ringbahn her. Im Rahmen des im letzten Jahr vereinbarten Gebietstausches zwischen Ost- und West-Berlin rücken die Ostler jetzt die Mauer 50 Meter weiter in den Kapitalismus. Sechs Hektar Fläche, auf der bis letzten Sommer auch 20 Schrottplätze, Kohlen und Baustofflager ihren Platz hatten, werden totes Gebiet, auf dem sich bald nur noch Grepos, Flüchtlinge und Hasen begegnen werden.

Die Überreste westlicher Zivilisation werden gleich mit eingemauert. Alte Autoreifen- und wracks stapeln sich auf dem Gelände, zwischen Hausruinen und Baumstümpfen sträunen einzelne Grenzwächter. Dann wieder taucht ein Trupp von 5 offensichtlich Höhergestellten auf, durchschreitet langsam das neu hinzugekommene Hoheitsgebiet der DDR, ohne mitzuhelfen, anzupacken, aufzubauen. Wächter des Aufbaus, des Maueraufbaus im Arbeiter- und B(M)auernstaat. Schlanke Pappeln, Birken und Sträucher liegen tot am Boden und werden von Baggern zusammengeschoben.

Insgesamt 37 seltene und vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten sind dem Gebietstausch zum Opfer gefallen. In den alten Versorgunsanlagen des Bahnhofs sollen nach Aussage von Ökologen sogar Teichmolche zu finden gewesen sein. Früher hausten hier auch Stadtstreicher in den Lagerhallen. Ein komplettes Biotop halt. Jetzt entsteht hier die Steppe der Grenzanlagen und Wachtürme. Dabei sind die betonierten Grenzanlagen, auf denen kein bißchen Grün wächst, an dieser Stelle sowieso schon ungewöhnlich ausgedehnt. Insgesamt zähle ich drei Mauern, eine als Direktbegrenzung zum Stadtteil Prenzlauer Berg, dann die alte und jetzt noch die, an der ca. 20 Arbeiter basteln. Ein paar Männer harken fein säuberlich einen Streifen Sand. Ein Kran bewegt die einzelnen Mauerstücke (ca. 2 Meter lange Betonklötze) und stellt sie auf die glattgezogene Fläche. Stumme Arbeiter verputzen die Zwischenräume, hängen mit Leitern über der Mauer, immer unter den Blicken der Grepos. Zwischendurch ein Tuscheln, ein Grinsen, die Männer fragen sich wahrscheinlich, was so interessant ist an ihrer stupiden Tätigkeit, die sie nun schon seit mehreren Wochen verrichten. Vielleicht ein, zwei Meter trennen uns, aber niemals würden hier Ost-West-Gespräche stattfinden. Das ist verboten.

Theo Düttmann