Wenn die Zeit sich wieder öffnet...

■ Wie deutsche Übersetzer die Gedichte des Griechen Jannis Ritsos mißhandeln

Eberhard Rondholz

Am 1. Mai wird der griechische Dichter Jannis Ritsos 80 Jahre alt. Nur kleine Ausschnitte aus dem Riesenwerk des mehrfachen Nobelpreiskandidaten sind in deutscher Sprache zugänglich. Das ist auch besser so, sagen einige meiner griechischen Freunde, so wie eure Übersetzer unsere Lyrik mißhandeln. Auch Jannis Ritsos selbst erzählte mir, als ich ihn vor ein paar Wochen in Athen besuchte, von schlechten Übertragungen seiner Gedichte ins Deutsche, einer seiner Übersetzer, Armin Kerker, habe ihn darauf aufmerksam gemacht.

Zurück in Deutschland, habe ich mir bei meinem Buchhändler geholt, was er an Ritsos-Übertragungen im Regal hatte, und mit dem Original verglichen. Und beschlossen, meine griechischen Freunde nie wieder mit ihren Übersetzungen deutscher Literatur zu hänseln, mit jenem vielbelachten „Fischtransportbootsverband“ beispielsweise, in den der Übersetzer eines bekannten deutschen Gegenwartsromans die kaiserliche Schlachtflotte verwandelt hatte. Vergleichbares haben sich nämlich leider auch deutsche Übersetzer griechischer Texte geleistet und nicht zu knapp. Den Vogel abgeschossen hat damit ausgerechnet jener Armin Kerker, der den Mund so voll genommen hatte, was seine übersetzenden Kollegen anging.

Steine, Wiederholungen, Gitter heißt die Gedichtsammlung von Jannis Ritsos, die Kerker übertragen hat und die im Rotbuch-Verlag erschienen ist. Kaum ein Gedicht in dieser Sammlung, das nicht sinnentstellende Fehler enthielte, und nicht alle sind von der harmlosen Art wie die Verwechslung der Wörter skamni (Schemel) und stamni (Krug) in dem Gedicht Erweiterung, die den einen oder anderen Leser zu der berechtigten Frage veranlaßt haben mochte, wieso denn wohl ein fehlender Krug jemanden dazu zwingen sollte, sich auf den Fußboden zu setzen. In Wirklichkeit ist es ein Schemel, der fehlt.

Steine, Wiederholungen, Gitter ist ein Zyklus von Gedichten, die zwischen März 1968 und Juni 1969 in der Verbannung auf den Inseln Leros und Samos entstanden sind dorthin hatte die Athener Obristenjunta den „gefährlichen Kommunisten“ Ritsos zwangsverschickt. Die Gedichte enthalten zum großen Teil Reflexionen über die vielen Niederlagen der Linken, in der Resistance, im Bürgerkrieg und danach. Es sind Gedichte zu Ehren der toten Genossen, über die Krise der Partei, aber auch über die Ruhmesblätter der Vergangenheit. In dem Gedcht Und davon berichtend versucht ein Genosse, sich an solche Ruhmesblätter zu erinnern, zum Biespiel „an die Dreihundert, an die Zweihundert“. Des Dichters griechische Leser wissen in der Regel, wovon hier die Rede ist - von den 300 Spartanern, die 480 v.Chr. in der Thermopylenschlacht gefallen sind, und von jenen 200 Geiseln, die die deutschen Besatzer am 1. Mai 1944 im Athener Arbeitervorort Kessariani erschossen haben (Bundespräsident von Weizsäcker hat bei seinem Griechenlandbesuch im Juni 1987 an ihrem Ehrenmal einen Kranz niedergelegt). Einem dieser 200, die das Los getroffen hatte, er hieß Napoleon Soukatsidis, wollte ein deutscher Offizier das Leben schenken, weil er ihn als Dolmetscher schätzte. Doch Soukatsidis wußte, daß ein anderer an seine Stelle treten würde, und so ging er mit den Genossen in den Tod. Dies ist die Geschichte der „zweihundert“ in dem Gedicht Und davon berichtend, und diese Geschichte in einer Fußnote oder im Nachwort mitzuteilen hätte gerade der deuschen Ausgabe gut gestanden. Doch der Übersetzer, der sonst nicht spart mit (meist überflüssigen, teils völlig unsinnigen) Fußnoten, hat hier nicht nur auf die notwendige Erklärung verzichtet, er hat auch noch die 200 Märtyrer der griechischen Resistance zusammen mit den Männern des Leonidas in Jahreszahlen verwandelt: Von den „Ehren (...) der Jahre Zweihundert oder Dreihundert“ faselt er in seiner Übersetzung, und so mancher mag sich nun fragen, was denn wohl in diesen Jahren für die Griechen Wichtiges geschehen sein mag.

Daß der Übersetzer die Wörter Emigration und Entfremdung verwechselt, die Kunst des Bogenschießens Bogentechnik nennt und den Lehrling Pflegekind, Skepsis und Skeptizismus gleichsetzt, vertraulich und vertraut, ergriffen und ergreifend, Versuchung und Heimsuchung - das mag man, als ärgerliche Flüchtigkeiten, noch hinnehmen, gäbe es derer nicht gleich mehrere Dutzend. Und wie es scheint, hat dieser Übersetzer noch nicht einmal im Kopf, daß das Wort kairos im Neugriechischen (eine Parallele zu den romanischen Sprachen) sowohl Zeit als auch Wetter bedeuten kann: Wenn, bei Ritsos, das Wetter sich aufheitert, wird daraus bei Kerker: „wenn die Zeit sich wieder öffnet“. Auch scheint ihm nicht geläufig zu sein, daß manche griechischen Ortsnamen im Plural stehen, und so setzt er an die Stelle der Stadt Platäa ihre Einwohner, die Platäer. Gravierender wird es, wenn er die Göttin Athene als Beschützerin des Rechts im Areopag kurzerhand durch die Stadt Athen ersetzt oder wenn er schließlich den Mythos von Orpheus und Eurydike umdichtet: Nicht Eurydike ist es bei Kerker, die wieder im Schattenreich verschwindet, nachdem Orpheus sich verbotenerweise nach ihr umgedreht hat, nein, es ist das Schattenreich selbst, das „wieder verschwand unter den Pappeln“. Da wundert es einen schon gar nicht mehr, wenn derselbe Übersetzer das Land der Hyperboreer in ein nur ihm geläufiges „Supranordland“ verwandelt und zwei Hauptfiguren des Hyperboreermythos gleich mit eindeutscht - aus den Jungfrauen Laodike und Hyperoche werden da „die sittsamen Mädchen Volksgericht und Überlegenheit“. Gottlob hat er uns weitere Barbareien dieser Art erspart und nicht gleich auch noch den Harpalykos und die Persephone zwangsgermanisiert als „Schnappwolf“ und „Perserstimme“ etwa.

Dafür erzählt er uns in dem Gedicht Bekehrung von einem Verwalter namens Kilikias, der das Orakel des Mopsos konsultieren läßt, und dieser Mopsos, so erfahren wir aus einer Fußnote, sei ein lapithischer Seher und ein Bruder des Amphilochos gewesen. Alles falsch: Das Orakel des Lapithen Mopsos befand sich in Libyen, die von Ritsos benutzte, Plutarch entlehnte Geschichte spielt hingegen in Kleinasien, wo es ein zweites Mopsosorakel gab. Der (bei Ritsos übrigens gar nicht erwähnte) Amphilochos war weder mit dem einen noch mit dem anderen Mopsos verwandt, und schließlich gibt es auch gar keinen Verwalter Kilikias - von dem Stadthalter der kleinasiatischen Provinz Kilikien ist die Rede (ein Amt immerhin, das Cicero eine Zeitlang als Prokonsul bekleidete). Doch solche Erkundungsgänge zu den Quellen der Ritsosgedichte waren dem Übersetzer wohl zu aufwendig. Er fabuliert lieber munter drauflos, wie etwa im folgenden Fall: In dem Gedicht Das neue Orakel erzählt Ritsos, wie eine Abordnung aus dem von einer Dürre heimgesuchten Böotien sich auf der Suche nach dem rettenden Troponoisorakel von einem Bienenschwarm leiten läßt - ein gewisser Saon hatte diese göttliche Erleuchtung, wie Pausanias überliefert, was Kerker aber nicht weiß. Da ihn aber das Verlangen überkam, seinen Lesern in einer Fußnote dennoch etwas über diesen Saon mitzuteilen, bindet er ihnen die folgende phantastische Geschichte auf:

„Soan, möglicherweise in Anlehnung an Samson gebildet für Aristaios, von dem Vergil berichtet, daß er einen Löwen tötete, aus dessen Kadaver ein Bienenschwarm aufstieg.“ Nun hat zwar Vergil von einem Löwen hier gar nichts berichtet, bei ihm (Georgica IV, Vers 317ff.) ist von Riesenkadavern die Rede, der tote Löwe findet sich im Alten Testament, Buch der Richter, Kapitel 14, Vers 8, und der Saon aus dem Ritsosgedicht hat mit diesem Mythenverschnitt nicht das geringste zu tun, aber was soll's, kein Lektor hat was gemerkt, höchstwahrscheinlich auch keiner der rund 5.000 auf solche Art und Weise auch an anderen Stellen geleimten Käufer des Buches. Leider wird ein Artikel wie dieser nicht verhindern können, daß Übersetzungen wie diese auch weiterhin gedruckt werden - so wie unser Verlagswesen und unser Buchmarkt heute beschaffen sind. Da müssen sich die Autoren schon selber schützen. Und ich glaube, ein so genauer Autor wie Jannis Ritsos wird es ganz und gar nicht schätzen, wenn man ihm einen Schwachsinn wie den zitierten unterstellt, unterstellt, er könne Saon und Samson nicht auseinanderhalten und halte ihre Namen noch dazu für Pseudonyme von Aristaios.

Er schätzt es übrigens auch nicht sehr (das weiß ich von ihm selbst), wenn ihn in dem Gedicht Herakles und wir, wo er von den Entstehungsbedingungen der Lyrik im Internierungslager berichtet, mit Lanzen ausgestattete Aufseher bewachen, waren sie doch, dem Fortschritt der Waffentechnik entsprechend, mit Bajonetten ausgerüstet. Läßt er diesen Anachronismus eben noch als „dichterische Freiheit des Übersetzers“ durchgehen, „unter den Augen der Wächter“, wie Kerker übersetzt, sind Ritsos‘ Gedichte auf Makronissos nicht geschrieben worden. „Vor ihrer Nase“ schon, aber gesehen haben sie nichts; sonst wäre dieser Teil von Ritsos‘ Werk niemals gedruckt worden.

Ganz und gar nicht schätzen wird er auch jenes komboloi aus Sonnenblumenkernen, das ihm der Übersetzer in dem Gedicht Reserven untergeschoben hat. Ein komboloi, so wird in einer Fußnote erläutert, ist eine „rosenkranzähnliche Gebetsschnur aus dem Orient, die man Stück für Stück durch die Finger gleiten läßt“. Ob der Übersetzer (der im übrigen zu erwähnen vergessen hat, daß diese Rosenkränze in Griechenland mit Beten nichts mehr zu tun haben) das schon mal ausprobiert hat - mit einem komboloi aus Sonnenblumenkernen (griechisch: liospori)? Bei Ritsos sind es übrigens Olivenkerne (liokoukoutsa), und die zu kombolois zu verarbeiten, in langer, geduldiger Arbeit, ist eine alte Tradition in griechischen Gefängnissen.

Ein Beispiel noch für dieses Übersetzers Großzügigkeit beim Nachdichten. In dem Gedicht Nachrichtenbulletin, einer Szene aus dem Bürgerkrieg, schreibt Ritsos von der Unmöglichkeit, die gefallenenen Genossen würdig zu bestatten. Sie werden, ohne Fahnen und Psalmengesang, in einen Lagerraum gelegt. Und dann heißt es, bei Kerker: „Die drei Marmornen sind auch gefallen.“ Wer mögen sie nur gewesen sein, diese drei rätselhaften Männer aus Marmor, mag sich gefragt haben, wer Johannes Weisserts Übersetzung desselben Gedichts in der Zeitschrift 'Akzente‘ nicht gelesen hat. Doch bei Ritsos sind es gar keine Männer aus Marmor (marmarini würden die auf Griechisch heißen), sondern marmaradhes, und das sind Männer, die den Marmor bearbeiten - von den toten Steinmetzen spricht der Dichter, bei denen man nun kein würdiges Grabmal mehr bestellen kann für die toten Genossen. Der von den drei Steinmetzen noch zurückgelassene Torso, ein Engel ohne Kopf, soll nun als Denkmal für alle dienen, für alle Engel des Kampfes für die Freiheit (wie der Dichter selbst das Gedicht verstanden wissen will).Marmarini - marmaradhes, ein kleiner lexikalischer Fehler nur, aber das Gedicht ist hin.

Von fehlerhaften Übersetzungen seiner Werke hat Armin Kerker dem Richter Ritsos erzählt und dabei nicht die eigenen gemeint, versteht sich. Und es gibt ja in der Tat auch noch andere. Zum Beispiel den zweisprachig im Verlag Stroemfeld/Roter Stern erschienenen Band Gedichte, der im Herbst 1988 als einsprachige Ausgabe in der Serie Piper neu aufgelegt wurde unter dem TitelDas letzte Jahrhundert vor dem Menschen. Als Übersetzer zeichnen das Neogräzisten -Ehepaar Hans und Niki Eideneier sowie 14 weitere Nachdichter. Daß die Übersetzung stilistisch dementsprechend uneinheitlich ausfällt, ist eine Sache. Eine andere, wenn die federführenden Neogräzisten ihren Mitübersetzern grammatikalische beziehungsweise lexikalische Fehler durchgehen lassen. Da wird ein griechisches Imperfekt nicht als Verlaufsform erkannt und wie ein Aorist (also als einmalige Handlung) übersetzt, da wird eine falsche doppelte Verneinung übersehen. Auch Stilblüten finden sich die Fülle, wenn zum Beispiel hinter der Mauer „die Kanonen hecheln“ oder wenn „der Frühling einbricht“, wenn eine „Gratkette der Zärtlichkeit“ Rätsel aufgibt. Warum ein Ausguß „Wasserstein“ genannt wird (darunter verstehen deutsche Leser in ihrer Mehrzahl doch wohl eine Kalkablagerung im Kessel), bleibt unerfindlich, desgleichen, warum ein Veilchen (viola) zur schlichten Blume wird.

Vor allem aber haben diese Übersetzer zu erkennen gegeben, wie fremd die politische Welt des Dichters Ritsos ihnen ist, die Welt der griechischen Arbeiterbewegung, der Kämpfe in Untergrund und Illegalität. Wie würden sie sonst eben diese Illegalität, die paranomia, mit „Gesetzwidrigkeit“ übersetzen beziehungsweise ein heimliches illegales Lächeln ein „gesetzwidriges Lächeln“ nennen? Und wenn der Genosse Ritsos das Wort syntrophos benutzt, dann heißt das auch Genosse und nicht Kamerad - mit Kamerad reden sich auch die Faschisten an. Ein polygraphos ist ein Umdrucker, ein Hektographierapparat, also ein zur Herstellung von Flugblättern und anderen Drucksachen im Untergrund besonders geeignetes Gerät und keine „Druckmaschine“, eine solche steht unter den Bedingungen der Illegalität in der Regel nämlich nicht zur Verfügung. Die Kopfbedeckung trajaska, die in Ritsosgedichten gelegentlich getragen wird, ist nicht einfach irgendeine Mütze, sondern die Mütze, die die griechischen Arbeiter tragen, eine Schirmmütze, eine Proletenmütze. Unsinnig ist es auch, in einem Zusammenhang, in dem Ritsos vom gemeinsamen Kampf der Landarbeiter, Studenten und Proletarier spricht, von der Einheit der Arbeiterklasse und der Intelligenz also, die Studenten als „Lehrlinge“ zu übersetzen. Und schließlich: Gesegnet sei unsere Brüderlichkeit, sagt Ritsos an anderer Stelle, „gepriesen sei unsere Verbundenheit“ wird daraus auf deutsch. Doch so unverbindlich-vage sollte man das dritte Losungswort der Französischen Revolution (und diesefraternite ist hier gemeint) nicht übersetzen. Kurz: Es reicht eben nicht aus, sich einfach auf die im Lexikon vorgefundenen Vokabeln zu verlassen, es gilt auch, die Konnotationen der Wörter zu achten. Ihre emotionalen, ihre politischen Bedeutungskomponenten auszuloten, auch das gehört zur Übersetzungskultur. Und manchmal, so hat es den Anschein, hat das Übersetzerkollektiv noch nicht einmal das Lexikon konsultiert. Jackett ist nicht gleich Kittel, Zorn ist nicht gleich Haß, und afentis, der Herr, ist kein Symbol für Aufseher - der bleibt allemal ein Knecht, auch wenn er die anderen Knechte schurigelt.

Mehr Mühe als dieses Kollektiv, das allzu salopp herumdilettierte, hat sich Erasmus Schöfer mit seiner Übersetzung der Nachbarschaften der Welt gegeben. Er war bescheiden genug, im Nachwort zu dem im Kölner Romiosini -Verlag erschienenen Bändchen seine begrenzten Griechischkenntnisse einzuräumen, er hat eine Griechin Korrektur lesen lassen, seine griechische Verlegerin Niki Eideneier nämlich, die mit ihrem deutschen Mann den genannten Spezialverlag für neugriechische Literatur ins Leben gerufen hat. Schöfer, selbst engagierter linker Schriftsteller, weiß, daß ein syntrophos ein Genosse ist. Er weiß auch, wovon die Rede ist, wenn Ritsos die „200 des 1. Mai“ erwähnt, und solche Kenntnisse sind bei Ritsosübersetzungen genauso wichtig wie eine gewisse Vertrautheit mit den griechischen Mythen, hinter denen der Dichter immer wieder aktuelle Bezüge versteckt. Um so unverständlicher, wenn in dieser Übersetzung zwei tote griechische Genossen, denen Ritsos in den Nachbarschaften (einem Versepos über Okkupation und Bürgerkrieg) ein Denkmal setzen will, aus einer Gefängniszelle an einen vergleichsweise idyllischen Ort verlegt werden: „Der Wind blies die Flugblätter hinauf bis zur Hütte des Lambrinos und des Themos Kornaros“, steht da auf deutsch zu lesen. Welche Hütte? Schöfer kennt die Genossen Lambrinos und Kornaros nicht, und so fiel ihm auch nichts auf. Seine griechische Verlegerin aber hätte den 1949 bei einer Massenerschießung umgebrachten ehemaligen Kulturredakteur des KPG-Zentralorgans 'Rizospastis‘ und den Schriftsteller Themos Kornaros, mit dem Ritsos im Internierungslager Makronissos zusammen war und der ein berühmtes (auch ins Deutsche übersetzte) Buch über die Hölle des KZs Haidari geschrieben hat, schon kennen sollen. Oder einen Landsmann nach ihnen fragen - dann hätte sie auch erfahren, wo die beiden sich aufhielten in den letzten Monaten der Naziokkupation: im Konzentrationslager von Haidari bei Athen, als Gefangene der SS, in einer Zelle und nicht in irgendeiner Hütte.

Bei soviel Sorgfalt des Verlags wundert es einen gar nicht mehr, wenn unbeanstandet blieb, daß der Übersetzer die berühmte Istanbuler Galatabrücke über den Bosporus spannte statt sie übers Goldene Horn zu legen (eine Bosporusbrücke wurde erst Jahrzehnte nach der Entstehung des Gedichts gebaut). Und manch anderes hätte da auffallen müssen, in einem Spezialverlag für neugriechische Literatur zumal. Wenn da zum Beispiel Charon und Charos verwechselt werden (was vielen passiert, ein Grieche kennt allerdings in der Regel den Unterschied zwischen dem Totenfährmann der Antike und dem Schwarzen Reiter des neugriechischen Volksglaubens, der als der personifizierte Tod die Menschen holt); oder wenn die alten Frauen angeblich Gräser sammeln zum Essen, wenn es doch bei Ritsos um den immerhin zum menschlichen Verzehr geeigneten wilden Löwenzahn geht. Daß mit einem Homburger nichts Eßbares gemeint ist, sondern eine Kopfbedeckung, eine Homburg nämlich, kann man noch aus dem Zusammenhang erraten, daß die vorbeirollende Dampfmaschine eine Lokomotive sein soll, ebenso. Mit dem Elektrizitätswerk, das zur Elektrischen wird, zu einer Straßenbahn also, wird es schon schwieriger oder mit dem Feldwebel, der sich in eine ganze Kompanie verwandelt. Aber wenn die Genossen auf dem nächtlichen Heimweg von einer illegalen Parteiversammlung ein paar Notizzettel bei sich tragen und es dann in der Romiossiniübersetzung statt dessen heißt: „Über uns sahen wir seltsame Inschriften“ - ja, dann geht's denn doch an die Substanz des Gedichts. Doch der griechischen Verlegerin ist auch hier nichts aufgefallen, und es ist ihr auch nicht eingefallen, daß ein deutscher Leser möglicherweise die Stiefel des Charlot (sic!) nicht unbedingt mit Chaplins Schuhen identifiziert. Sie selbst vielleicht ja auch nicht. Und daß sie nichts dabei findet, wenn Hammer und Sichel verwechselt werden, wundert einen dann schon gar nicht mehr, ist ja beides irgend sowas Linkes.

Fazit: Sieht man einmal ab von dem unbeabsichtigten Unterhaltungswert, den eine solche Übersetzungskritik zweifellos auch zu bieten vermag, ein bißchen traurig ist es aber doch, daß der arme Jannis Ritsos in unserem Land derart mißhandelt wird. Wobei nicht verschwiegen werden soll, daß es auch seriöse Ritsosübersetzungen in deutscher Sprache gibt, ich denke da beispielsweise an die (leider vergriffene) Anthologie, die der Damokles-Verlag unter dem Titel Mit dem Maßstab der Freiheit herausgebracht hat, eine Übertragung der Bochumer Neogräzistin Isidora Rosenthal -Kamarinea. Es ist auch zu erwähnen, daß in der DDR gute Ritsosübersetzungen angefertigt werden, der Reclam-Band Milos geschleift verdient Lob, ebenso die von Thomas Nikolaou übertragene Kleine Suite in rotem Dur (Volk und Welt). Was aber nichts an dem Skandal ändert, daß auch die anderen Übersetzungen in Umlauf sind. So, wie sie sind.