„Eine lebensgefährliche Situation“

Dr. Helmut Becker, Internist, zu den Risiken nach 63 Tagen Hungerstreik  ■ I N T E R V I E W

taz: Seit 63 Tagen verweigern Christa Eckes und Karl-Heinz Dellwo jede Nahrungsaufnahme. Wie lange kann das überhaupt möglich sein? Wo ist die Grenze?

Dr. Helmut Becker: Aus medizinischer Sicht gibt es einige Erfahrungen, wie lange ein Mensch hungern kann. Erfahrungen mit den Gefangenen, die der RAF zugerechnet werden, wie auch aus Hungerstreiks der IRA-Häftlinge. Man kann allgemein sagen, daß ein Mensch in eine lebensgefährliche Situation kommen kann ab dem 60. Tag des Hungerns. Wie lange ein Mensch hungern kann, ohne nachhaltige schwerste gesundheitliche Schäden davonzutragen - das ist einfach schon zynisch, darüber noch nachzudenken. 70 Tage sind sicherlich eine Grenze, die wir hier in der Bundesrepublik bei keinem Gefangenen bisher erlebt haben. Die längste Zeit des Hungerns lag nach meiner Erinnerung zwischen 65 und 70 Tagen. Insofern kann man sagen: Wer über 60 Tage durchgehend gehungert hat, ist in einer lebensgefährlichen Situation, weil man den Zeitpunkt des Umkippens in eine akute Lebensgefahr nicht vorhersehen und vorhersagen kann.

Ist das ein plötzliches Umkippen, das dann eintritt?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sich der lebensbedrohliche Zustand bei einem Hungerstreikenden bemerkbar machen kann. Einmal, indem er zunehmend müde, apathisch und nur auf Anruf noch zu wecken ist. Er schlummert sozusagen in einen lebensgefährlichen Zustand hinein. Es gibt aber auch die Möglichkeit, daß plötzlich ganz akut ein Kreislaufverfall eintritt und damit eine lebensbedrohliche Situation da ist, wenn dann nicht gleich eingegriffen werden kann. Nach Bewertung von ärztlicher Seite ist dieser Hungerstreik im Moment hochgradig gefährlich.

Sie sprechen von Eingriffen, die dann erfolgen müssen. Was ist denn dann überhaupt noch möglich? Welche Garantien kann es da geben, zum Beispiel für die Behandlung im Koma?

Wenn ein Hungerstreikender in einen komatösen Zustand fällt, dann ist jeder Arzt gehalten, Erste Hilfe zu leisten. Ob die noch rechtzeitig kommt, kann man nicht vorhersagen. Die Maßnahmen, die man ergreifen würde, wären Venenkatheter. Das heißt, man müßte einen Zugang zum Blutsystem schaffen, durch eine Infusion den Kreislauf stabilisieren und durch Blutuntersuchungen kontrollieren, wo im Moment die größten Störungen liegen, um sie rasch durch entsprechende medizinische Maßnahmen zu korrigieren - in der Hoffnung, daß das Koma nicht unwiderruflich ist. Ob die ärztliche Erste Hilfe erfolgreich sein wird, das kann man nicht vorhersagen. Je länger die Person schon hungert und je stärker die Gewichtsabnahme ist, um so risikoreicher ist die Situation, um so schwerwiegender sind die Gesundheitsschäden.

Es hieß in den vergangenen Tagen, der Zustand von Karl -Heinz Dellwo sei stabil, er nehme noch am Hofgang teil. Heute nimmt er nicht mehr daran teil, weil er friert, heißt es aus dem niedersächsischen Justizministerium.

Das sind durchaus Zeichen. Frieren und Frösteln durch ungenügenden Kreislauf sind durchaus ein Frühzeichen einer verschlechterten gesundheitlichen Lage.

Deutet das eine Zuspitzung an?

Das kann das andeuten, ja.

Interview: Maria Kniesburges