Die Pekinger Springprozession

■ Gestern ging der chinesische Volkskongreß zu Ende / Auf Wirtschaftsliberalisierung folgt wieder mehr Zentralisierung

Selbstkritik stand einmal mehr im Mittelpunkt. Parteichef und Regierungschef bekannten auf der jährlichen Sitzung des Parlamentes namens „Volkskongreß“ reumütig, die eingeführte Preisreform sei übereilt gewesen. Die Folge: eine galoppierende Inflation. Jetzt wird das Steuer wieder herumgerissen. Der Schlingerkurs ist allerdings Ausdruck der Hilfslosigkeit der gesamten Führung und nicht - wie westliche Beobachter oft meinen - ein Machtkampf von Konservativen und Liberalen.

Die Chinesen lieben die feinen Andeutungen. Doch Teng Hsiao -ping winkte mit dem Zaunpfahl. Genauso wie bei der Eröffnung des Volkskongresses vor zwei Wochen saß der Kapitän der chinesischen Wirtschaftsreform auch gestern bei der Schlußsitzung nicht mehr auf der Brücke. Deutlicher konnte es der 84jährige starke Mann Chinas kaum sagen. Was die Regierung den über 3.000 Delegierten als Fortsetzung der Reform- und Wirtschaftspolitik für das sozialistische Riesenreich anzubieten hatte, ist lange nicht mehr das, was Teng einst als die „zweite Revolution Chinas“ lobte.

Herausragende Botschaft, die der Ministerpräsident in seinem Rechenschaftsbericht anzubieten hatte, war der Marsch zurück. Li Peng (61) predigte Sparsamkeit für das Reich der Mitte. Kürzen der Ausgaben, bedingte Rückkehr zum Zentralismus und für das Volk den Gürtel enger schnallen, lautet die Devise.

Auf der abschließenden Pressekonferenz nahm Lin Peng gestern zwar auf das für Mai geplante Gipfeltreffen mit Michail Gorbatschow Bezug („Normalisierung der Beziehungen“). Doch als er auf die Innenpolitik zu sprechen kam, setzte er sich deutlich von der Perestroika ab: Da könne China nicht mechanisch die Schritte der Sowjetunion kopieren.

Seine Regierung sei zwar auch für demokratische Reformen, doch müsse zuvor die ökonomische und soziale Stabilität gewährleistet sein. Fragen nach der während des Volkskongresses beschlagnahmten Petition chinesischer Intellektueller für die Freilassung politischer Häftlinge beantwortete der Premier nicht und versicherte statt dessen den Journalisten, die Menschenrechte würden in China geachtet und garantiert.

Mit dem vom Volkskongreß abgesegneten Sparkurs - Li Pengs Rechenschaftsbericht wurde gestern per Handaufheben gebilligt, zwei Gegenstimmen gab es und vier Enthaltungen reagiert die Regierung auf bedrohliche Krisensymptome in der Wirtschaft. Seit 1949 ist die Inflation in China nicht mehr so in die Höhe geschnellt. Von knapp 20 Prozent Teuerungsrate für 1988 sprechen offizielle Stellen. Doch längst liegt die wirkliche Inflation über 30 Prozent, Chinas Arbeiter, Bauern und Intellektuelle sind wieder ärmer geworden. Und das soziale Gefälle wächst.

Die Ursache für diesen wirtschaftlichen Offenbarungseid sieht der Ministerpräsident in der Preisreform. Diese Kernstück der Reform schlechthin sei zu schnell und unüberlegt angegangen worden. Ein Seitenhieb auf seinen Vorgänger, den jetzigen Parteichef Zhao Ziyang - auch wenn Li am Montag in versöhnlicher Geste betonte, daß die begangenen Fehler von der kollektiven Führung Chinas gemeinsam verantwortet werden.

Der Teng-Schützling und energische Befürworter einer umfassenden Wirtschaftsreform hatte in den letzten Jahren das Ende der staatlichen Subventionen und Preise, die dem Markt und nicht der Partei gehorchen, zum Herzstück der chinesischen Wende erklärt. Doch dann begann im letzten August die Inflation zwischen Beijing und Kanton zu galoppieren. Sparkonten wurden geplündert, Zeitungen berichteten über Hamsterkäufe. Der Premier und sein Vize Yao Yilin sollen daraufhin beim Reformarchitekten Teng um die Ablösung des Parteichefs gebeten haben. Bis zur Stunde freilich ohne Erfolg.

Langsameres Wachstum

„Sowohl die Regierung als auch das Volk müssen sich geistig auf einige Jahre Sparsamkeit einstellen“, sagte Li. Daß die chinesische Wirtschaft nach vier Jahren überhitztem Wachstum (durchschnittlich 14 Prozent) eine Pause gebrauchen könnte, daran besteht kein Zweifel. Doch ob Bevölkerung, private Unternehmen und Kollektivwirtschaft das mitmachen, ist eine andere Frage. Sogar die Staatsbetriebe hatten bei ähnlichen staatlichen Sparappellen in den letzten Jahren nach dem Motto reagiert: „Beijing ist weit.“

In einigen Landesteilen waren gar die Rohstoffmärkte zusammengebrochen, weil Spekulanten in Staatsbetrieben entgegen Anweisungen lieber an den prosperierenden Süden oder in die Sonderwirtschaftszonen verkauft hatten.

Die Popularität der chinesischen KP auf einem Tiefstand angelangt. Ein Wirtschaftswissenschaftler erklärt, warum: „Als es uns in den 60er Jahren schlecht ging, waren alle betroffen, sogar Mao. Die Geduld der Leute war groß, weil die Partei mit den Leuten das Wohl und Wehe teilte. Aber heute leben die Kader ein Luxusleben. Deshalb werden sich auch die kleinen Leute dagegen wehren zu sparen.“

Eine Zahl, die das Sekretariat der KP dieser Tage veröffentlichte, spricht Bände. Gegen 150.000 der 44 Millionen Mitglieder der Partei ist allein im vergangenen Jahr eine Disziplinarmaßnahme verhängt worden. 25.000 wurden ausgeschlossen, darunter 9.000 wegen Korruption. 37 von ihnen waren hohe Parteifunktionäre.

Inflation und zunehmende Einkommensungleichheit haben Folgen. Immer häufiger wird von Demonstrationen und Streiks verbitterter Arbeiter berichtet. In mehr als 200 Städten sind jetzt Spezialeinheiten der Polizei aufgestellt worden, die bei sozialen Unruhen zum Einsatz kommen sollen.

Der Boom der letzten fünf Jahre hat auch in der Wirtschaftsstruktur deutliche Spuren hinterlassen. Die Produktion der Staatsbetriebe ist von einst 80 Prozent Anteil an der Gesamtproduktion auf nur 64 Prozent gesunken. Ihren Anteil übernehmen nun private oder Kollektivbetriebe, die den Gesetzen des Marktes gehorchen. Dort aber regiert das Gesetz von „hire and fire“. Hunderttausende ziehen gegenwärtig in den Süden, in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Einkommen. Allein in die Handelsmetropole Kanton an der Grenze zu Hongkong sollen in den letzten Monaten zweieinhalb Millionen Menschen gezogen sein.

Noch im letzten Jahr war der Volkskongreß dadurch aufgefallen, daß die Delegierten begonnen hatten, sich den Freiraum eines Parlaments zu erobern. Selten zuvor waren die Debatten so lebhaft geführt worden. In diesem Jahr gab es kaum Widerstand zum Sparkurs von Li Peng. Seit die Hamsterkäufe im letzten Herbst die Partei aufgerüttelt haben, sind die Fraktionen der Konservativen und Reformer in der Wirtschaftspolitik enger zusammengerückt.

Jürgen Kremb

Gegen den Staat klagen

Ein Gesetz, das aufmerken läßt, verabschiedete der Volkskongreß dennoch in seiner Schlußsitzung: Künftig werden alle BürgerInnen die rechtliche Möglichkeit haben, die chinesische Regierung, einzelne Behörden oder Beamte wegen Verletzung ihrer persönlichen Rechte zu verklagen.

Dieser Schutz gegen staatliche Willkür soll am 1. Februar 1990 in Kraft treten. Bei illegalen Festnahmen, Strafen, der Konfiszierung von Eigentum, der Verletzung von Eigentum, dem Entzug von Geschäftserlaubnissen und der Einschränkung persönlicher Freiheiten können Betroffene dann vor Gericht Klage erheben und auch Anspruch auf Entschädigung geltend machen. Das Gesetz gesteht dabei Ausländern und ausländischen Organisationen das gleiche Klagerecht zu wie Chinesen.

Schließlich verabschiedete der Volkskongreß auch ein neues Regelwerk für den Parlamentsablauf mit Wahl- und Ablösungsmodalitäten von Regierungsmitgliedern. Damit sollen die Überwachungsfunktionen des Parlaments über die Regierung gestärkt werden.

dpa