In den baltischen Ländern gehen die Uhren anders

■ In Estland, Lettland, Litauen entstanden in kurzer Zeit politische Bewegungen und ein neues Selbstbewußtsein / Medienvielfalt, Demonstrationen, eine Revision der sowjetischen Geschichtsschreibung und die Abwahl von Funktionären sind erste Ergebnisse

Erich Rathfelder

Als am 25.März überall in der Sowjetunion die Uhren auf Sommerzeit gestellt wurden, schlossen sich die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen nicht an. Am Rande der Moskauer Zeitzone zu leben, bedeutete für die Menschen in diesem Raum, der winterlichen Dunkelheit bis in den späten Vormittag hinein ausgesetzt zu sein. Das wird jetzt alles anders. Die neue Zeit verspricht mehr Licht. Je eine Stunde zwischen Moskau und Berlin zu liegen, stellt Altgewohntes wieder her. Denn wurden nicht in jenem August 1940, in dem die Sowjetunion unter Stalin die baltischen Länder dem Riesenreich einverleibte, die Uhren nach Moskau ausgerichtet? Ab jetzt werden also Riga, Tallinn und Wilna wieder den Platz einnehmen, der ihnen nach Meinung der meisten Esten, Letten und Litauer auch gebührt. Den zwischen Mitteleuropa und Rußland, den eines Mittlers zwischen West und Ost.

Es sind die Symbole, die heute ihre Kraft entfalten und Veränderungen deutlich machen, die noch vor einem Jahr als unmöglich galten. An den öffentlichen Gebäuden hängen die Nationalflaggen, die vor kurzem noch verboten waren. Es ist durchaus kein Tabu mehr, über die Zukunft auch unabhängig von der in der Sowjetunion nachzudenken. Dies sei zwar politisch „abenteuerlich und illusionär“, heißt es allenthalben, doch gibt es auch in den höchsten Parteikreisen und auf den Regierungsetagen von Wilna, Riga und Tallinn Stimmen, die über eine ökonomische Abkoppelung der baltischen Länder von der UdSSR spekulieren. Als sei es das Natürlichste von der Welt, taucht in den Gesprächen mit Verantwortlichen sogar der Gedanke auf, zu eigenen Währungen zurückzukehren als Voraussetzung für eine offensive Handelspolitik. Gerade die Beiläufigkeit, mit der die Öffnung ausgesprochern wird, ist dabei das Erstaunlichste. Ein Stück Normalität scheint zurückgewonnen.

Noch sind die Wahlplakate nicht vergilbt, auf denen die Wahlkämpfer ihr Programm dem Volke näherbrachten. Und auch die vielen handgeschriebenen Zettel, die an Bäumen oder Zäunen kleben, werden nicht einfach abgerissen. Zu kostbar ist die neu gewonnene Meinungsfreiheit. Wenn auf einem Zettel sogar gefordert wird, Lettland von Truppen der Vereinten Nationen zu besetzen, weil man dann sicher sei vor dem Zugriff aus dem Osten, ist dies wohl die Meinung eines Einzelkämpfers und ruft ein Lächeln bei den lesenden Passanten hervor. Nach fast 50 Jahren unter der Herrschaft des sowjetischen Imperiums hat sich das lange unterdrückte nationale Selbstbewußtsein der Letten, Litauer und Esten Bahn gebrochen. Und das treibt bisweilen skurile Blüten. Fortschritt ohne Kläranlagen

„Stürmisch wachsen die Industriezentren wie Valniera, Ogre, Jekabpils“, heißt es in einer Broschüre der Presseagentur 'Nowosti‘ über die lettische Republik. 4,5 Millionen Kubikmeter Gas werden in Lettland täglich der Erde abgerungen. Chemiebetriebe sind entstanden und riesige Heizkraftwerke produzieren die Energie für den Fortschritt. In Estland verbrennen zwei riesige Wärmekraftwerke mit einer Leistung von je 3.250 Megawatt die dort zuhauf vorkommenden Brennschleifer, und die chemische Industrie Litauens kann sich weltweit sehen lassen. Stickstoffdünger, Pestizide, Petrochemie haben kräftige Zuwachsraten. Nordöstlich von Wilna, der litauischen Hauptstadt, wurde das größte Atomkraftwerk „der Welt“ gebaut. Zwei Blöcke dieses Tschernobylmodells liefern schon je 1.500 Megawatt an Strom.

Mit dem „gewaltigen Fortschritt“ durch die Industrie verdunkeln sich die Städte. Liegt es an dem trüben Wetter dieses Märztages, daß der die Stadt überragende Turm des Doms von Riga von der Autostraße nicht mehr zu erkennen ist? Wer an Sonntagen die Stadt in Richtung Ostsee verläßt, erkennt, daß die Behörden aktiv geworden sind: Nur Autos mit Sondergenehmigung dürfen nach Jurmala fahren, dem traditionellen und berühmten Badeort an der Küste des Baltischen Meers. Doch auch im Sommer sind die Badefreuden dort getrübt. Mit dem breiten Strom der Düna ergießen sich auch alle Abwässer ins Meer. Doch es soll noch Wagemutige geben, die ihren Körper der Brühe anvertrauen, die Behörden jedenfalls warnen vor dem Baden.

Ganze Landstriche sind verseucht, Ökologen weisen auf die bedauerliche Qualität des Wassers hin. Die Betriebe „zeigen keinerlei Verantwortung gegenüber ihren Abwässern“, klagt Silija Lipska von der „Gesellschaft für Denkmal und Umweltschutz“. Und keine der großen Städte hat eine Kläranlage. 1982 gab es um Lettland eine „Havarie der Erdölpipeline“ mit dem Resultat eines großen Stücks verseuchten Bodens und fünf Millionen Rubel Strafe für die Betreiber.

Als am 20.März bei dem Explosionsunglück in einer Ammoniakfabrik in der litauischen Stadt Jonava fünf Menschen ums Leben kamen und 30.000 vor der Giftwolke fliehen mußten, war dies nur wieder ein Tüpfelchen auf dem I. Die giftige Gaswolke zog über das Land und verätzte Atemwege von Mensch und Tier. Über die Unglücksursache wurde nichts bekanntgegeben. Noch immer schweben nach einem Bericht von 'Sowjetskaja Rossija‘ 41 Menschen in Lebensgefahr. Wahlsieg gegen Apparatschiks

So kurz vor den Wahlen zum Obersten Sowjet der Sowjetunion am 26.März zeigt dieses Unglück Wirkung. Denn die „Havarie“ bestätigte in den Augen vieler Litauer nur noch einmal, daß die Moskauer Behörden und Ministerien unfähig sind, die Probleme vor Ort zu lösen. Wenn auch die kleinsten Dinge in Moskau entschieden werden, und nicht vor Ort, seien Schlampereien und Katastrophen an der Tagesordnung. Die Kandidaten der litauischen Volksfront, „Sajudis (Mensch) -Bewegung für die Perestroika“, die sich für den Umweltschutz und für die Selbstverwaltung engagiert, gewannen 30 der 42 Sitze in der Republik. Auch in den anderen baltischen Republiken waren die Volksfronten höchst erfolgreich. Altgediente Repräsentanten der Kommunistischen Partei wurden hinweggefegt. Nur diejenigen Kandidaten der Partei, die auch von den Volksfronten in Litauen, Lettland und Estland unterstützt worden waren, haben es geschafft. So konnte der populäre, erst im Herbst gewählte KP-Chef Litauens, Algirdas Brazauskas, über 80 Prozent der Stimmen gewinnen, weil die Volksfront seine Kandidatur unterstützte, während der Vorsitzende des Obersten Sowjets und der Ministerpräsident, zwei stellvertretende Ministerpräsidenten, der Justizminister, der Chef der Planungskommission und andere Kandidaten des Systems mit Pauken und Trompeten durchfielen.

In Lettland wurde der Ministerpräsident von einem populären Fernsehkommentator besiegt, der Parteichef Janis Vagris konnte nur knapp die Mehrheit gegen Juris Dobelis behaupten, der offen für den Austritt Lettlands aus der Sowjetunion wirbt. Und in Estland siegte in der Stadt Viljandi Edgar Savissar, ein Mitbegründer der dortigen Volksfront, mit mehr als 80 Prozent der Stimmen gegen den örtlichen Parteichef Allik Jaak. Neue Kader haben den alten Apparat überholt. Denn die meisten Kandidaten der Volksfronten sind auch Mitglieder der Kommunistischen Partei. Sie gehören jedoch nicht zum Apparat. Volksfronten bestimmen

die Politik

Die Wahlergebnisse sind nicht die ersten Erfolge dieser Organisation. Sie sind nur ihr vorläufiger Höhepunkt. Ihre Geschichte ist die eines schnellen Erfolgs. Der Traum vom Tellerwäscher zum Millionär in der sowjetischen Version. Wer hätte sich von den damals versprengten Ökologen in Litauen vor einem Jahr vorstellen können, zu den Gründern einer Volksbewegung von mehr als 300.000 Mitgliedern anzugehören, auf die heute die Regierung, die Partei und die Bürokratie hören müssen? Wer von ihnen hätte damals wirklich daran geglaubt, daß schon nach einem halben Jahr offener Mobilisierung der Bevölkerung das Atomkraftwerk Ignalina wenn schon nicht stillgelegt, so doch am Weiterbau gehindert wird? Wer von den Künstlern in Lettland, die Anfang Juni 1988 offen über die Situation im Lande, über die Geschichte und über die Zukunft sprachen, hätte sich vorstellen können, daß ihre Diskussion das Land erschütterte und Hundertausende in Bewegung brachte? Und hatte sich der estnische Fernsehjournalist Juhan Aare damals tatsächlich erträumt, daß er den Plan der Moskauer Bürokraten, die die in großem Umfang vorkommenden Phosphoritlager im Tagebau abtragen lassen wollte, mit einer Fernsehsendung und der auch dadurch hervorgerufenen Mobilisierung der Bevölkerung zunichte machen könnte?

In dem schönen alten Haus inmitten der Altstadt von Riga, in der die inzwischen mächtige Volksfront ihr Büro hat, geht es zu wie in einem Taubenschlag. Besucherströme steigen die alten Stiegen zu den vier Zimmern des Büros hinauf, alte Menschen sind dabei, die Rat suchen für ihre Sorgen, ebenso wie junge Militante, die dafür sorgen sollen, die druckfrischen Zeitungen und das andere Informationsmaterial im Lande zu verteilen. Journalisten und ausländische Besucherguppen geben sich die Klinke in die Hand. Ein bißchen Stolz schwingt schon mit, wenn Sandra Kalniete über die Anfänge räsonniert. Sie war gleich mit dabei und ist nun Stellvertretende Vorsitzende und damit eine der 20 Festangestellten der Organisation. „Von Anfang an wollten wir nicht als Gruppe agieren, sondern als offene Bewegung, in der alle Strömungen unseres Volkes vertreten sind“, gibt sie zu Protokoll. Anfang August begann die Programmdiskussion. Und als das Programm Anfang September veröffentlicht wurde, hatten sich schon 85.000 Menschen als Mitglieder eingetragen. Heute sind es mehr als 230.000. Die Volksfronten sind von unten aufgebaut. Basisgruppen wählen Delegierte, die wiederum bestimmen die 100 Mitlieder der Duma, des Organisationskomitees.

Ähnlich rasant entwickelten sich die Volksfronten in Estland und in Litauen. Am 3.Juni 1988 tritt „Sajudis Bewegung für die Perestroika“ zum ersten Mal auf, am 20.Juli organisiert sie einen Marsch gegen die Umweltverschmutzung und gegen das Atomkraftwerk Ignalina. Am 23.August mobilisieren die Volksfronten in den drei baltischen Staaten Hunderttausende anläßlich des Jahrestages des Stalin-Hitler -Pakts von 1939. Als am 21.Oktober „Sajudis“ einen Gründungskongreß abhält, feiern mehr als 300.000 Menschen das Ereignis. Im Zuge der politischen Entwicklung werden in dem Land mehr als 150 unabhängige Zeitungen und Zeitschriften gegründet. In Estland schlägt die Geburtsstunde der Volksfront, der „Rahvarinne“ schon im April. Als am 17.Juni, als mehr als 100.000 Menschen in Tallinn die 32 estnischen Delegierten zur Allunionskonferenz der KPdSU in Moskau verabschieden, ist sie schon zu einem politischen Faktor geworden. Und als mehr als 300.000 von 1,5 Millionen Einwohnern am 11.September einem Aufruf der Volksfront folgen, ist sie schon zum Ausdruck der estischen „nationalen Wiedergeburt“ gereift. Der Gründungskongreß Anfang Oktober mit 100.000 Mitgliedern bestätigte die Bewegung als bestimmende politische Kraft im Lande. Nationale Wiedergeburt

und Perestroika

Ist es nicht der Nationalismus, der diesen Erfolg ermöglichte? Sandra Kalniete wiegt den Kopf. Es sei eher eine andere politische Kultur, die sich hier wiederfände. Anders als in der Partei sind Frauen in der Volksfront nicht ganz untergebuttert. Es ginge nicht allein um die nationale Selbstformulierung, sondern um die Rechte des Volkes. Schließlich hätten die Letten 700 Jahre deutscher Herrschaft und den Stalinismus überlebt. „Wir Letten sind keine Fremden in diesem Land.“

Seit 1795 zu Rußland gehördend, erlebte das Land nur eine kurze Periode der Unabhängigkeit. Die Russische Revolution und der Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen Deutschland und der revolutionären Sowjetregierung von 1918 machten es möglich: Lettland, Litauen und Estland wurden unabhängige Staaten. Auch Polen und Finnland erlangten nach der Russischen Revolution ihre Unabbhängigkeit. Doch mit dem Stalin-Hitler-Pakt vom 23.August 1939 war es damit wieder vorbei. In den geheimen Zusatzprotokollen wurde Osteuropa zwischen den beiden Mächten in Einflußsphären aufgeteilt. Und als Hitler die deutsche Wehrmacht nach Polen einmarschieren ließ, stoppten die deutschen Truppen an der auch heute noch gültigen polnischen Ostgrenze. Die östlichen polnischen Gebiete wurden von Polen abgetrennt. Die Rote Armee rückte von Ost nach West an diese Demarkationslinie heran. Die baltischen Länder wurden im August 1940 Sowjetrepubliken. Die vordem zu Polen gehörende Stadt Wilna wurde wieder Hauptstadt Litauens. Nur die Finnen leisteten im „Winterkrieg“ gegen Stalins Armeen hinhaltenden Widerstand.

Erst seit kurzem, im Zuge der Perestroika, mit der Möglichkeit, die „weißen Flecke“ in der Geschichte aufzudecken, darf wieder öffentlich über die damaligen Ereignisse gesprochen werden. Und die Erinnerungen werden wach: an die Deportationen von 60.000 Esten, 34.000 Letten und 38.000 Litauer im Jahre 1940, als Stalin die „Reaktionäre“, meist Angehörige der politischen, administrativen und wirtschaftlichen Elite, nach Sibirien verfrachten ließ. Und die Erinnerungen steigen auf an den Terror der Deutschen, die nach der Eroberung der baltischen Länder im Herbst 1941 dort wüteten und allein im lettischen Konzentrationslager Salaspils 600.000 Menschen, vor allem jüdischer Abstammung, ermordeten. In den Jahren 1944/45, als die Rote Armee die baltischen Länder von den Deutschen befreite, wurden wiederum 140.000 Menschen, diesmal auf Stalins Befehl, als „Kollaborateure“ deportiert. Und viele Letten, Litauer und Esten kennen noch aus eigener Erfahrung die Schrecken der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft von 1949, als wiederum an die 200.000 Menschen in andere Teile der Sowjetunion verfrachtet wurden.

Nein, die Geschichte wird nicht mehr verschwiegen. Hunderttausende kommen zu den von den Volksfronten organisierten Gedenktagen, wie dem am 23.August oder erst am 25.März, als in Riga Zehntausende an die 1949 Verbannten gedachten. Geschichtswissenschaft ist zu einer hochbrisanten politischen Angelegenheit geworden. Und die Historiker können und müssen jetzt Farbe bekennen.

Der Stalin-Hitler-Pakt

„Bisher sind die Zusatzprotokolle zum Ribbentrop-Molotow -Pakt (wie der Stalin-Hitler-Pakt hier genannt wird, d.Red.) in Moskau nicht veröffentlicht worden. In Estland hat man die aus Deutschland zugänglichen Protokolle veröffentlicht. Für uns noch fast wichtiger ist das Material, das auch hier, in Litauen über die damaligen Verhandlungen gesammelt wurde. So gibt es hier Dokumente, die beweisen, daß Stalin schon im Vorfeld des Paktes dem litauischen Botschafter in Moskau zeigte, wie die Demarkationslinie verlaufen wird.“ Der Vizedirektor des Historischen Instituts der Universität Wilna, Alfonsos Eidintas, will sogar die Geschichte des unabhängigen Litauens von 1919 bis 1940 heute anderes bewertet sehen, als dies bisher der Fall war. Kürzlich legte er ein Buch über das Regime Smetona vor und bezweifelte darin die bisherige Geschichtsauffassung. Nicht faschistisch, wie bisher suggeriert, sei dieses Regime, das in Litauen seit 1926 herrschte, gewesen, sondern autoritär, denn es konnte sich nicht zu einem totalitären Regime entwickeln. Und damit wagt er sich auf unsicheren Boden: denn der „faschistische Charakter“ des Regimes diente später zur Legitimation der Okkupation. Als spannendes und bisher nicht berücksichtigtes Feld der Geschichtsforschung sieht er auch die Zeit nach 1944: „Die Erforschung des bewaffneten Widerstands, der bis 1952 aktiv war, wird jetzt intensiviert.“

Bisher verschüttete und durch die Propaganda zugedeckte Wurzeln werden wieder freigelegt. Dazu gehören auch die Deutschbalten. „Wir sollten die Forschung darüber intensivieren“, fordern die beiden ZK-Mitglieder der Lettischen KP Jurus Goldmanis und Ojars Skundra mit Blick auf die Verbesserung der Beziehungen zur Bundesrepublik, „auch dieser Teil der Geschichte ist unsere Geschichte.“ Denn schließlich prägten der deutschbaltische Adel die Geschichte der Stadt Riga entscheidend mit. 1201 vom Deutschen Orden gegründet, blieben die Deutschen auch nach dem Zusammenbruch des Ordens 1561 die herrschende Schicht im Land. Selbst als das Land 1795 an Rußland kam, blieb ihr Einfluß ungebrochen. Doch mit dem Stalin-Hitler-Pakt verließen die meisten die Stadt. „Hitler rief und holte sie 1940 heim ins Reich. Und sie folgten diesem Ruf.“ Professor P.Krupnikovs, seit letztem Jahr endlich mit einem Lehrstuhl an der Universität Riga betraut, gilt als einer der besten Kenner dieser Geschichte und darf jetzt mit mehr Aufmerksamkeit für sein Werk hoffen.

Nur einige hundert Deutsche wohnen heute noch in den Mauern der Stadt. Auch der evangelisch-lutherische Boschof der Sowjetdeutschen, Harald Kalnisch, kann den Exodus von damals immer noch nicht so richtig begreifen. „Eine 700jährige Geschichte aufzugeben, ist schon bedauerlich.“ 40 bis 50 Christen treffen sich heute noch zu seinem Gottesdienst in deutscher Sprache. Und die Ausreisewelle in die Bundesrepublik beginnt jetzt auch an seiner Gemeinde zu zehren. Doch „jeder muß selbst wissen, was für ihn richtig ist“.

Ihren Höhepunkt erreichte die Geschichtsdebatte in Lettland am 8. und 9.Oktober letzten Jahres, als im Rahmen des Gründungskongresses der Volksfront die Mär der bisherigen sowjetischen Geschichtsschreibung, die baltischen Staaten hätten um die Aufnahme in die Union gebeten, nachhaltig widerlegt wurde. Durch die Debatte wurde deutlich, auf welch schwankendem Terrain die bisherige Legitimationsgrundlage für die Zugehörigkeit der baltischen Sataten zur Sowjetunion steht. Und als im neuen Verfassungsentwurf des Obersten Sowjet der UdSSR im letzten Herbst das bisher festgeschriebene Recht der Republiken auf Austritt aus der Sowjetunion angetastet wurde, erhob sich ein Sturm der Entrüstung und die Parteiführungen von Litauen und Lettland versuchten, wenn auch leise, dieses Recht zu verteidigen. Starkes Zentrum - starke Republiken

„Das Zentrum der Sowjetunion soll so stark sein, daß niemand aussteigen will.“ Illgwer Lietvietis ist Abteilungsleiter beim Obersten Sowjet der Lettischen Republik und gibt die offizielle Linie der lettischen Partei zum Besten. Denn die lettische Partei will den Konflikt nicht auf die Spitze treiben. Wenn schon Stimmen auftauchen, die baltischen Länder könnten mit Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark und der EG besser kooperieren und wirtschaftlich vorwärtskommen, wenn sie nur eigenständige Staaten wären, dann sieht er dies als „unrealistisch und illusionär“ an. Denn auch Lettland sei ökonomisch abhängig von der Sowjetunion. „Wir verfügen nicht über genügend Energiequellen und Rohstoffe“, stellt er nüchtern fest, „und unsere Absatzmärkte sind nicht zu trennen von der Sowjetunion.“ Doch seine Bestandsaufnahme geht über Probleme nicht hinweg: Die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte der Region - die baltischen Länder verfügen über eine auch heute schon funktionierende Landwirtschaft - seien viel zu niedrig, die importierten Fertigwaren jedoch zu teuer.

Die Kolchosen und Sowchosen könnten so nicht richtig kalkulieren, sie könnten noch leistungsfähiger sein. Die Versorgungslage in den baltischen Ländern sei zwar besser als in anderen Teilen der Union, doch würden die relevanten Wirtschaftsentscheidungen in Moskau getroffen, und dies sei nicht immer zum Besten der Republik.

Doch am 1.Januar 1990 soll alles anders werden. Anfang März wurde ein Gesetz veröffentlicht, das die Selbständigkeit der Betriebe vergrößert. Sie werden zur vollen „wirtschaftlichen Rechnungsführung“ übergehen. Die Macht der Ministerien in Moskau wird begrenzt und Kompetenzen an die örtlichen Behörden abgetreten. Dennoch sehen einige Experten die Fortschritte noch als viel zu langsam an. „Wir wollen die von uns verdienten Valuta, also die Westwährungen, selbst verwalten und dafür Investitionsgüter, neue Technologien aus dem Ausland bei uns einführen“, so Lietvietis.

Bei dem Sprachgesetz in Lettland sind noch nicht alle Hürden überwunden. In Litauen ist Litauisch seit dem 18.November 1988 wieder zur Staatssprache erhoben, am 18.Januar erfolgte ein ähnliches Sprachgesetz in Lettland. In allen Amtsstuben und bei Unternehmen sind nun wieder Litauisch oder Estnisch tonangebend, doch Russisch bleibt gleichberechtigt. In Lettland ist Lettisch seit September immerhin wieder zur Volkssprache ernannt. Doch der letzte Schritt wird verzögert. Hier zeigen sich die Widerstände des Apparats. Interfronten - Widerstand

gegen Reformen

Bei der Einwanderungsbevölkerung machen sich jetzt Ängste breit. Nicht bei allen zwar - Armenier, Weißrussen und auch manche Ukrainer sympathisieren mit den Vorstellungen der Volksfronten -, doch die Russen zweifeln, ob die Sprachgesetze notwendig sind. Im sechsten Stock eines Hochhauses im Neubauviertel der Stadt residiert die Führung von „Interfront“ . Am 8.Januar dieses Jahres gegründet, hat sie regen Zulauf bei den Einwanderern gewonnen. Schon jetzt wollen die Sprecher über 300.000 Mitglieder hinter sich gesammelt haben. Eine mächtige Kraft, die es mit den Volksfronten aufnehmen will. Auch in Litauen gibt es eine Schwesternorganisation, die „Einheit“, in Estland ist die „Internationalistische Bewegung“ tätig.

Mit seiner Luftwaffenuniform setzt sich Genosse Belatschuk auch äußerlich von den Menschen in der Volksfront ab. „Wenn es den Nationalismus nicht gäbe, wäre ich auch in der Volksfront. Wir sind auch für die Perestroika. In vielen Punkten stimmen wir mit den Volksfronten überein, in der Frage der Rechtssicherheit, in der Frage der Trennung von Sowjets und der Partei und sogar über ein Mehrparteiensystem könnten wir reden, wenn die Zeit dafür reif ist. Doch wir müssen uns gegen die Auswüchse wehren, gegen die 'Bewegung für nationale Unabhängigkeit Lettlands‘, gegen die Gruppe 'Helsinki 86‘ und auch gegen die Grünen.“

Kein Wunder, daß Kritiker die Interfronten als konservativ einstufen. Wie soll denn die Wirtschaftsreform vor sich gehen, wenn nicht dezentralisiert wird, wenn also die einzelnen Republiken nicht mehr Kompetenzen für eine eigenständige Entwicklung erhalten? Es sei schon verständlich, daß gerade die Träger der Interfronten, die russischen Spezialisten, Ingenieure, das Management sich schwer tun, die neuen Sprachgesetze zu akzeptieren, doch die Perestroika verlange nun einmal auch die nationale Selbstverwaltung. Ohnehin könnten die Betriebe und Verwaltungen sich gar nicht so schnell umstellen, denn allein die Anschaffung von Schreibmaschinen mit lateinischen Buchstaben anstatt der jetzt gebräuchlichen mit kyrillischen übersteige die Möglichkeiten des jetzigen Budgets.

Auch in der Geschichtsdebatte zeige sich ihr konservativer Zug. Weil ihre Mitglieder nicht einsehen wollten, daß die baltischen Länder von Stalin okkupiert und nicht freiwillige Sowjetrepubliken wurden, hätten gerade sie einen nationalistischen Standpunkt, nämlich den des großrussischen Reichs mit seiner „imperialistischen Politik“ (Lenin). Die Partei hat viele Flügel

Die Kommunistischen Parteien in den baltischen Ländern sind kein monolithischer Block. In ihnen spiegeln sich, ähnlich wie in den großen Volksparteien des Westens, inzwischen viele Meinungen der Gesellschaft, regionale und ökonomische Interessen, nationale und kulturelle Unterschiede. Kalle Merusk, Abteilungsleiter in der Abteilung für Ideologie des ZK der estnischen Partei, steht der gesellschaftlichen Diskussion gelassen gegenüber. „Wir leben in einer Zeit des Aufbruchs. Die Menschen haben noch nicht so viele politische Erfahrungen, unmittelbare Forderungen sprengen oft noch die Möglichkeiten.“ Doch die Partei selbst habe dazu beigetragen, die Fronten zu entkrampfen. Mit dem Wechsel an der Spitze der estnischen Partei im Sommer vorigen Jahres, als die Reformer die Macht übernahmen, habe die Partei in der Gesellschaft wieder an Ansehen gewonnen. „Das Eingeständnis eigener Fehler und Irrtümer ist auch ein Weg zum Vertrauen. Wir entscheiden im Rahmen des Sozialistischen Pluralismus. Was wir wollen, ist allein, daß dieser Prozeß im Rahmen der Demokratisierung verläuft.“

Auf den Fluren des Gebäudes des ZK der estnischen Partei in der Hauptstadt Tallinn kann man leicht erkennen, wer hier die Macht übernommen hat. Es ist die Generation der 35- bis 45jährigen, die nun den Ton angibt. Auch in Riga und in Litauen ist diese Schicht nach vorne gerückt. „Eine neue Funktionärsgeneration ist das“, meint Jurij Tscherwakow, ein Journalist der Presseagentur 'Nowosti‘. Nicht alle benutzen ihren Wolga, um hierher zu kommen, man geht zu Fuß, undenkbar noch für die auf ihre Privilegien pochende alte Garde. Und Kalle Merusk bringt es auch nicht aus der Fassung, daß die sowjetische Parteizeitung 'Prawda‘ die estnische Partei scharf kritisierte, weil sie die „Führungsrolle der Partei in Frage stellen lasse“. Denn er geht davon aus, daß die Kommunisten sich gerade jetzt mit ihrem neuen Kurs als führende Kraft bestätigt haben. Doch über ein Mehrparteiensystem zu sprechen, sei verfrüht. „Ich glaube nicht, daß unsere Gesellschaft schon dazu reif ist. Doch wir bräuchten auch da keine Angst zu haben. Die KP ist zu einem politischen Zentrum geworden und arbeitet mit den anderen politischen Kräften zusammen.“

In der Tat. In Estland ist die KP eine zentristische Kraft geworden. Und in Lettland und Litauen ist sie auf dem Weg dazu. Die Reformer, die sich zur Wahl stellten, haben jedenfalls große Erfolge erzielt. Es scheint, daß in den baltischen Ländern die Uhren noch lange anders gehen werden.