JENSEITS DER HEIMATKUNDE

■ „Tiergarten - Vom Brandenburger Tor zum Zoo“ Der vierte Band der Reihe „Geschichtslandschaft Berlin“

Zu Hause fühlte sich hier wohl kaum je einer. Der südliche Tiergarten zwischen Brandenburger Tor und Zoo, zwischen Hansaplatz und Lützowviertel - das Gebiet, das der vierte Band der von der Historischen Kommission zu Berlin herausgegebenen Reihe Geschichtslandschaft Berlin stadthistorisch beackert, ist wohl niemandem wirklich Heimat. Denn das sogenannte wirkliche Leben, der Alltag, die durchschnittliche Biographie spielte und spielt sich woanders ab. Im Gegensatz zu den bisher von einem knappen Dutzend HistorikerInnen in dieser Reihe erforschten Stadtteilen Tiergarten - Moabit, Charlottenburg - Der Neue Westen und Charlottenburg - Die Historische Stadt ist der 'Alte Westen‘ Berlins keine mehr oder weniger „gewachsene Stadtlandschaft“ (soweit ein Gebilde aus Steinen und Menschenleibern mit diesen Vokabeln aus dem Buch der Natur überhaupt bedacht werden kann), in der die Leute lebten und leben, wo sie wohnten und arbeiteten, wo produziert und konsumiert wurde und wo Geschichte eben einfach stattfand - und zwar nicht zuletzt immer auch als Heimatgeschichte der Großstadt. Der erst 1881 nach Berlin vollständig eingemeindete Süden des heutigen Verwaltungsbezirks Tiergarten hingegen besteht hauptsächlich aus einer Ansammlung von verschiedenen Orten, die mit dem Alltag des allergrößten Teils der städtischen Bevölkerung wenig zu tun hatten - soweit sie nicht Gelehrte, Künstler, Bankiers, Politiker und Industrielle waren und in den vornehmen Villen residierten, wie etwa der Staatsminister August Freiherr von der Heydt in der seinen.

Hierher flüchtete man vielmehr vor dem Alltag, der sich etwa in den Fabriken aus dem Band über Moabit abspielte, besuchte die Vergnügungsstätten an der Straße In den Zelten, wo heute wieder das Tempodrom steht. Ab 1844 ging's in die Krolloper an dem Exerzierplatz, wo später der Platz der Republik entstehen sollte, oder man ging vielleicht in den im selben Jahr eröffneten Zoo, der seit 1949 dank eines Zuchtvertrages mit dem Leipziger Zoo auch halbsozialistische Brut großzieht, oder ab 1928 ins Haus Vaterland an der Köthener Straße. Dort befreite man sich vielleicht nur für ein paar Stunden aus der eigenen Geschichte oder machte wenigstens den Versuch.

Unterdessen wurde nebenan im Reichstag oder in den Botschaften die wirkliche Geschichte gemacht, mit allen strategischen Implikationen, die diese Formulierung hat. Strategisch wichtig für den Rückhalt der NSDAP bei den Katholiken war etwa das Konkordat vom 20. Juli 1933 zwischen der NS-Regierung und dem Vatikan, der seit 1923 in der Rauchstraße eine Botschaft unterhielt. Während einige der Botschaften in der Umgebung heute in der einen oder anderen Weise noch oder wieder genutzt werden, ist zwar der einzige Überrest der 1943 zerstörten päpstlichen Nuntiatur, nämlich ihr Luftschutzbunker, mittlerweile völlig überwuchert. Sein Abriß wurde indessen 1958 nicht genehmigt, da er „vermutlich auch heutigen Anforderungen“ des Luftschutzes genüge.

Und es wurde Geschichte grausam vollzogen: ab 1934 etwa im Volksgerichtshof in einem ehemaligen Gymnasium in der Bellevue-Straße, der zwischen 1934 und 1944 insgesamt 12.891 Todesurteile gefällt hat. „Keiner der haupt- und ehrenamtlichen Blutrichter des Volksgerichtshofes ist bis heute zur Rechenschaft gezogen worden.“ Ebenso wenig wie an den Volksgerichtshof erinnert heute an die benachbarte Euthanasie-Zentrale „T4“ in der Tirgartenstraße 4, wo ab 1940 zwischen 300 und 400 Mitarbeiter, die meisten bis heute straflos, zunächst etwa über „die Schaffung von 'Tötungskapazitäten‘ für rund 70.000 Menschen und den Einsatz einer 'rationelleren‘ Tötungsart als bei der Kinder -'Euthanasie'“ nachdachten, um schließlich den Massenmord an Kranken so effektiv wie möglich zu organisieren. „Nach dem Krieg wurden einige der Hauptverantwortlichen wie Karl Brandt, Viktor Brack und Paul Nitsche aufgrund von Gerichtsurteilen hingerichtet. Andere wie Werner Heyde konnten unter falschem Namen Karriere machen und wurden erst nach öffentlichen Skandalen vor Gericht gestellt. Manche erreichten durch wirkliche oder angebliche Krankheiten die Einstellung der Verfahren. Ein Teil der verurteilten Ärzte und Mitarbeiter der 'T4‘ befand sich bald wieder auf freiem Fuß. (...) Werner Catel, der maßgeblich an der Planung und Durchführung der Kinder-'Euthanasie‘ beteiligt war und vor Gericht auch nicht bestritt, eigenhändig Kinder 'todberuhigt‘ zu haben, ist nie verurteilt worden. Seine Mitarbeit bei der Tötung von rund 5.000 Kindern stand seiner Anstellung als Ordinarius für Kinderheilkunde und als Direktor der Universitätskinderklinik in Kiel nicht im Wege. (...) Auf dem Grundstück Tiergartenstraße 4 und dem benachbarten Gelände wurde Anfang der sechziger Jahre die Philharmonie errichtet. Die Villa selbst stand dort, wo sich heute die Bushaltestelle befindet. Seit der Eröffnung der Philharmonie am 15. Oktober 1963 stört hier kein Gedenkstein den ästhetischen Genuß der musikalischen Darbietungen.“ Geschichte vollzogen wurde aber auch bei den obersten Marinebehörden, im Reichwehrministerium beim Oberkommando der Wehrmacht, im Bendler-Block zwischen Reichpietschufer und Stauffenbergstraße, oder auch durch den Zoobunker, den Albert Speer 1941 auf Befehl Hitlers als Flakstellung mit Schlafsälen, Lazarett, Luftschutz- und Lagerräumen errichtete und der erst 1969 vollständig abgerissen wurde.

Schließlich wurde Geschichte an manchen Orten einfach nur in all ihrer vermeintlichen Größe dargestellt, wie etwa in der Siegesallee, im Schloß Bellevue, am Platz der Republik oder - in ganz anderer, nämlich medialer Weise - im Vox-Haus in der Potsdamer Straße 4. Wo die Macht ist, darf der Geist nicht fehlen, selbst wenn dieser oft nicht ganz genehm ist: im Wohnhaus der Bettine von Arnim in der Straße In den Zelten 4, in der Kunsthandlung Cassirer, im Lützowviertel bei Walter Mehring oder bei den 'Graecisten‘, die sich hier reihum bei ihren gelehrten Mitgliedern trafen, im Deutschen Künstlertheater, in der Akademie der Künste, in der Kongreßhalle, in der Philharmonie. Und zwischen allem zirkulierte das Geld der Gäste des Edenhotels und des Hotels Esplanade. Während der 1838 eröffnete und 120 Jahre später wegen Kriegszerstörungen abgerissene Potsdamer Bahnhof für die Zirkulation von Menschen und Monarchen, Soldaten und Sozialisten (wie z.B. Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin), von Toten (wie z.B. Friedrich Ebert) und von Kriegsverwundeten sorgte.

Die AutorInnen (Helmut Bräutigam, Berthold Grzywatz, Andreas Hoffmann, Marie-Luise Kreuter, Manfred Pahlmann, Harald Reissig, Gabriele Silbereisen, Jürgen Schmädeke, Klaus Dieter Wille und Karl-Hermann Zehm) haben ihr Forschungsgebiet wie schon bei den vorausgegangenen Bänden in „Planquadrate“ eingeteilt, um sich dann innerhalb dieser Quadrate einzelne Punkte zwecks vertikaler Bohrung entlang der zeitlichen Achse herauszusuchen. So ergeben sich hier innerhalb der sechs Planquadrate - Im Tiergarten, Zwischen Großem Stern und Hansaplatz, Am Platz der Republik, Zwischen Potsdamer Platz und Kemperplatz, Zwischen Herkulesbrücke und Potsdamer Brücke, und Das Zooviertel - 29 Bohrlöcher, jedes versehen mit einer Zeittafel zur Bau- beziehungsweise Entstehungsgeschichte, dem „ereignisgeschichtlichen“ Hauptteil, der eben diese „Ereignisse“ nicht nur herunterbetet, sondern meist auch die Zusammenhänge, in denen diese stattfanden, aufzeigt, reichlich Literaturhinweisen und allerlei meist literarische Randbemerkungen von Zeitgenossen. Schließlich ergibt sich ein Längsschnitt durch 462 Jahre Berliner Geschichte seit der ersten urkundlichen Erwähnung des Tiergartens 1527 und quasi ein Querschnitt durch die Vielfalt der Objekte gegenwärtiger historischer Neugier, die sich eher zufällig an den vorgefundenen Orten entzündet und wenig mit Stadtgeschichtsschreibung oder gar Heimatkunde im klassischen Sinne zu tun hat.

Andererseits stellen sich von diesen einzelnen Punkten aus, nach diesen Probebohrungen in die Vergangenheit, dann plötzlich wieder Fragen für die zukünftige Planung dessen, was eben doch auch Heimat ist, wie Andreas Hoffmann in seiner Einleitung deutlich macht: „Beispiel Spreebogen. Seit dem Bau der Kongreßhalle 1957 und der Wiederherstellung des Reichstagsgebäudes hat sich hier baulich nicht viel ereignet. Im früheren Alsenviertel soll wieder ein Wohnviertel enstehen, auf dem Gelände des ehemaligen Generalstabsgebäudes, in dem zuletzt Heinrich Himmler sein Amtszimmer hatte, ein 'Deutsches Historisches Museum‘. Ist dieser Bauplatz auf diesem geschichtlichen Boden gut gewählt? Wie wird der Platz der Republik gestaltet? In welcher Weise berücksichtigt man dabei das sowjetische Ehrenmal? (...) Beispiel Lenne-Dreieck. Nach 1972, als das Gebäude des Potsdamer Bahnhofs gekauft wurde, erhielt Tiergarten 1988 zum zweiten Mal einen Gebietszipfel des Bezirks Mitte eingemeindet, vier Hektar zwischen der Bellevue- und Lennestraße. Der Flächenerwerb ermöglichte nun eine Schnellstraßenplanung, auf die der Senat 1981 schon einmal verzichtet hatte: eine neue, teils über-, teils unterirdische Nord-Süd-Verbindung. Vehement kämpfen hier Naturschützer um den Erhalt der artenreichen Spontanvegetation. Beim Bau der benachbarten Magnetbahn hatte sich der Senat gerichtlich gegen ähnliche Bedenken schon einmal durchgesetzt. Westtangente oder Naturschutzgebiet? Neubau oder Schutz gewachsener Strukturen? Diese Planungsdichotomie wird in einer so konzeptionslos gewachsenen Stadtlandschaft wie dem südlichen Tiergarten immer wieder Probleme provozieren.“

Gabriele Riedle

Geschichtslandschaft Berlin - Orte und Ereignisse. Teilband 1: Tiergarten - Vom Brandenburger Tor zum Zoo. Hrsg. von der Historischen Kommission zu Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, 404 Seiten, 48 Mark.