: Philosophie der Langsamkeit
■ Peter Sloterdijks Kritik der politischen Kinetik: „Eurotaoismus“.
Mathias Bröckers
Eurotaoismus - das klingt nach Kitsch. Steht uns, nach dem Zen der Motoradwartung, Taoisten an der Wall Street, Holistik für Manager, Yin und Yang in der Finanzbuchhaltung und New-Age-Philosophie im Dutzend, jetzt die Eurovariante eines Teutonen-Tao ins Haus. Daß die Rede vom „Tao“ in die Kitschzone geraten ist, ist Peter Sloterdijk egal. - „Die Philosophen haben die Interpretation der Welt durch andere Leute bisher nur verschieden verdächtigt, es kommt darauf an, sich auf sie einzulassen.„ - Ihm ist vielmehr an einer Antwort auf die „kalifornischen Surrogate“ des Wassermannzeitalters gelegen, die auf die Krise des Westens mit Asienimporten reagieren. Zwar gesteht er dem holistischen fast food punktuell seine Berechtigung zu, „doch die Tragweite des Neuen Denkens erschöpft sich, wie zu fürchten ist, in dem Vorschlag, in Zukunft unsere Ideen mit Stäbchen zu essen“. Die Antwort, die er in seinen Essays versucht, versteht sich als Erinnerung an die Tatsache, „daß es Gerichte gibt, von denen man mit Stäbchen hungrig bliebe“. Die leichte und luftige Art, mit der uns Sloterdijk diese Scherbengerichte vorsetzt, kann nicht darüber hinweg täuschen, daß es sich um schwere Brocken handelt; was er in diesen Aufsätzen einläutet, ist nicht weniger als eine „alternative Kritik der Moderne“, eine kritische Theorie „der planetarischen Mobilmachung als der falschen permanenten Revolution“. Man könnte es auch umdrehen: Sloterdijk schreibt an gegen die permanente Mobilmachung als falscher planetarischer Revolution.
Es gab Zeiten, in denen galt: Der Mensch denkt, aber Gott lenkt, diese alte Ökologie menschlicher Macht und Ohnmacht ist aus den Angeln gehoben worden vom technopolitischen Gefüge der Moderne. Die Parole der Neuzeit lautet: Der Mensch lenkt, und es läuft alles wie er denkt, und diesem Credo wird seit 200 Jahren mit Optimismus und Aggressivität gehuldigt: Industrie, Massenkommunikation, Geschwindigkeit, schneller, höher, weiter, die Fata Morgana ewigen Wachstums. Erst seit die Folgeschäden dieser allgemeinen Mobilmachung spürbar werden, kommt der Verdacht auf, daß es sich um ein Trugbild handeln könnte. Die Postmoderne ist durch die Formel gekennzeichnet: Der Mensch denkt und lenkt, aber es kommt immer anders, als er's sich gedacht hat, denn: er hat die Hälfte, das andere, nicht mitbedacht. Mit der Lokomotive erfindet er das Zugunglück, mit dem Auto den Stau, mit dem AKW den GAU, mit der Organisierung der Arbeit die organisierte Freizeit, mit der Tele-Vision den Stumpfsinn in vier Wänden...jeder Fortschritt setzt immer auch eine Fremdbewegung in Gang - ein Selbstlauf, der längst als Katastrophenlawine rollt.
Eine Kritik der politischen Kinetik - der Bewegung, Beschleunigung und allgemeinen Mobilmachung - ist, so Sloterdijk, „zu fundamental, als daß man sie den Fundamentalisten überlassen könnte„; sofern es sich um marxistisch vorbelastete Fundis handelt, würden die sich für die Überlassung auch schleunigst bedanken, meint doch Sloterdijk, daß es angesichts der Katastrophendrift der Welt egal sei, in welcher Form der „kinetische Nihilismus“ voranschreitet: ob in Gestalt der gefräßigen Konzerne und Trusts oder in Gestalt des Arbeiters, der die Prduktivkräfte entfesselt, bis, wie es im „Kommunistischen Manifest“ heißt, „alles Stehende und Ständische verdampft“. Tschernobyl hatte Marx natürlich nicht im Auge, als er in humanistischer Absicht derart euphorisch zur produktiven Mobilmachung aufrief, spätestens seit dieser „Verdampfung“ aber kann es Sloterdijk nicht verübelt werden, die Bibel der Kommunisten als „Magna Charta des offensiven kinetischen Nihilismus“ zu lesen: „Wenn man sich daran erinnert, mit welchen Mienen und Argumenten die marxistische Zumutung, den Begriff der Arbeit als Basiskategorie zu akzeptieren, von den schönen Seelen des 19.Jahrhunderts quittiert wurden, dann läßt sich eine Vorstellung entwickeln, welcher Empfang einer Kritik der politischen Kinetik bevorsteht: nur daß diesmal die Marxisten mit den schönen Seelen und den bürgerlichen Pragmatikern in der großen Koalition der Mobilmacher zusammenstehen. Die Marxisten, weil ihnen als erstes einleuchtet, daß die Kinetikkritik nur von einem nachmarxistischen Standpunkt aus möglich ist, wo man den „dialektischen Materialismus“ als eine besonders welke Form moderner Mobilmachungsfolklore überblickt, die schönen Seelen, weil sie bei ihrem Aufbruch ins neue Zeitalter und dem Human Potential Movement durch eine so häßliche Theorie zumindest nicht beflügelt werden; die Pragmatiker, weil sie ohnehin keinen Gedanken aufkommen lassen, der ihr Axiom eines dreiprozentigen Wirtschaftswachstums auch nur von ferne in Frage stellt. „Sloterdiijk ist sich bewußt, daß seine Kritik der politischen Kinetik nicht anders wirken kann als „die Gestikulationen eines Laternenanzünders, der sich in einer auf Neonbeleuchtung umgestellten Stadt nützlich machen will“ - so hoffnungslos dieses Unterfangen angesichts der mobilmachenden Scheinwerfer der Aufklärung scheint, anders als in Form eines derart kleinen Lichts scheint eine kritische Theorie des Zivilisationsprozesses schlechterdings unmöglich: „Wenn es nach dem Debakel des Marxismus und nach dem zweideutigen Verklingen der Frankfurter Schulen noch eine dritte Version kritischer Theorie anspruchsvollen Typs geben kann, dann wohl nur in Form einer kritischen Theorie der Bewegung. Ihr therapeutisches Kriterium bestünde in der Unterscheidung...zwischen richtiger Beweglichkeit und falscher Mobilisierung... Nur als ruhige Theorie der Bewegung, nur als stille Theorie der lauten Mobilisierung kann eine Kritik der Moderne noch vom Kritisierten verschieden sein - alles andere ist rationale Kosmetik des Mitmachens, bewußtes oder unbewußtes Anstoßen ohnehin fahrender Züge, Mimesis des Grundprozesses im Reflexionsprozeß.„
Diesen unheimlichen Grundprozeß, der als Katastrophenlawine auf das Nichts zurollt und in dem sich „die Ohnmacht als Weltmacht etabliert“, verfolgt der Autor an seinen Ausgangspunkt zurück: das Drama des Zur-Welt-Kommens und den Menschenankömmling als „chronische Fehlgeburt“. Ein Thema, das Sloterdijk in der Vergangenheit schon des öfteren ventiliert hat: der Mensch als „fehlgeborenes Tier“, das den „Nachteil, geboren zu sein“ (Cioran) durch Selbstintensivierung zu überwinden sucht. Subjektivität ist demnach keine „Tathandlung“, sondern die zwanghafte Anstrengung, „sich - im Gegenzug zur vorsubjektiven Aussetzung ins Unheimliche - durch Selbstgeburt zur Welt zu bringen und sich durch eigene Haltung in ihr Stand zu verschaffen... Immer tritt uns das Subjekt als ein sich selbst zusammenhaltendes Anstrengungszentrum gegenüber...durch seine unvermeidliche mißgeburtliche Position ist es 'spontan‘ zu der Anstrengung verdammt, seinen Halt in einer auf Widerruf übernommenen Welt aus eigenen Versprechungen zu stabilisieren.“ Aus dieser Spannung, aus sich selbst eine Welt zu schaffen, in der Halt, Stand, Initiative möglich ist, resultiert Sein als In -Bewegung-Sein, der nicht zu Ende geborene Mensch muß mobil machen, um zur Existenz zu kommen.
Was wird aus den Subjekten, wenn sie sich, wie jetzt am Ende der Moderne, als Halter unhaltbarer Stellungen erweisen, wenn ihre Dynamik sich zu einer Mobilisierungswut spiralisiert hat, die die Welt in desaströse Turbulenzen stürzt? Für Sloterdijk ist unser Überleben „an eine Selbstrücknahme der kinetischen Flutwelle 'in uns‘ geknüpft“, doch schließt er nicht, wie z.B. Rudolf Bahro, von der Gefahr direkt auf das Rettende und von der hoffnungslosen Weltlage auf eine Logik der Rettung: „Selbst wenn es für uns eine Rettung gäbe, so wäre diese nicht logisch, sondern konjunkturell kein Produkt eines notwendigen Zusammenhangs, sondern ein Geschenk der Gelegenheit.„
Um diese Gelegenheit näher zu beschreiben, bedient sich der Autor in einem äußerst zwielichtigen (gleichwohl gut bestückten) Steinbruch im Schwarzwald, Heideggers Begriff der „Kehre“ könnte „der Titel sein für die Entspannung des Subjekts von seinen selbstgebärerischen Überdehnungen. Sie bezeichnet dann den Übergang von einer zu allem entschlossenen, zu einer in manchem gelassenen Seinsweise“. So ironisch, wie der Stau an Feiertagen das Allerheiligste der Mobilität zum Stillstand bringt, so ironisch wirken die Autoritäten, mit denen Sloterdijk seine Thesen belegt: Der „humane“ Marx wird in kinetischer Lesart zum Theoretiker der Weltzerstörung, das „totale“, gigantomanisch überdehnte Mobilmachungsschwein Heidegger zum Stichwortgeber des Klein-Werdens, des Nicht-Tuns, des Sein -Lassens: der Gelassenheit. „Die Gelassenheit führt nicht nur aus falschen Anstrengungshaltungen heraus, sondern mehr noch von den falschen Erleichterungen der Mobilmachungsprozesse weg. Gelassenheit erwächst aus dem Vorteil, nicht gesiegt zu haben. Sie gleicht der Niederlage in einem Kampf, den zu gewinnen eine Katastrophe wäre.„
Kritik der Kinetik heißt Kritik des Machens, der Selbstinszenierung, der Praxis, jenen Manifestationen, für die das Abendland, Europa und nicht zuletzt die Teutonen berühmt und berüchtigt wurden. Wenn Praxis als permanente Mobilmachung in den Abgrund führt, kann Negation der Praxis nicht irrational sein. Wenn Mobilisierung die neuzeitliche Antwort auf die Vergänglichkeit des Lebens und die Ungleichheit der Schicksale darstellt, hat die Entwicklung eines passionierten Bewußtseins menschlicher Endlichlichkeit nichts mit religiösem Opium zu tun, sondern steht auf der Tagesordnung der Rationalität. Welchen Sinn macht die Katastrophenlawine, wenn nicht den der Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen? Die moderne Mobilmachung hat sich von jeglichem Jenseits als Sinngeber verabschiedet, im Diesseits jedoch keinen adäquat haltbaren installiert: Sinnlos spukt es „aus sich selbst entspringend“ vor sich hin, der allgemeinen Verdampfung entgegen. Die Wahrheitssucher haben sich unterdessen ins Gewusel der Metropolen begeben, in den Büro- und Beziehungsstreß des Alltags, ins nachmetaphysische volle Menschenleben, um ganz unten, im Mittelmaß, das Wirkliche an der Wirklichkeit zu suchen: „Aus den neuentdeckten Niederungen blüht eine Hermeneutik des Banalen auf, die uns erklärt, was es für ein Mysterium ist, wenn wir uns die Mühe machen, da zu sein.„
Gegen jenes metaphysikmüde Denken bringt Peter Sloterdijk die „altchinesische intrauterine Bonhomie ins Spiel..., die den Betrieb da draußen als tödliches Umsonst kommentiert“. Die Ahnung um das tödliche Umsonst der „zweiten Geburt“, dieser Anstrengung zum Subjekt, gar zum Macher der Geschichte zu werden, ist die Basisschwingung der Gelassenheit. Sloterdijk plädiert nicht für den spirituellen Ausstieg noch für masochistische Totalkontemplation, sondern für eine Kultur des Zögerns und Zauderns, der Demobilisierung und der Umlenkung des subjektiven Elans von der äußeren Mobilität auf die innere Erregung. Es gilt, sich der „existentiellen Ekstase als angeborener Verlegenheit innezuwerden. Vergeblich entweicht unsere ekstatische Abundanz und Qual seit jeher in die Räume und Zeiten. Die großen Aufbrüche und Fluchten der Menscheit in die historische Zeit und den geographischen Raum haben aber zu atembeklemmenden Verknappungen geführt - und zu der Gewißheit, daß, wenn heute noch etwas offen sein sollte, es gewiß nicht der geographische Horizont und nicht die historische Zukunft sind, sondern die Kraftfelder präsentischen Lebens.„
Hier und jetzt also - mit planetarischer Politik der Ekstase gegen die politische Extermination des Planeten. Beim Nichthandeln besteht dringender Handlungsbedarf warten wir's ab.
Peter Sloterdijk: Eurotaoismus - Zur Kritik der politischen Kinetik, edition suhrkamp 1989, 346 S., 22 Mark
Zwischenüberschrift:
„Man müßte Taoist sein, um die Einsicht zu ertragen, daß uns der Taoismus auch nicht mehr hilft.“
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