Polens neuer Pluralismus hat viele Gesichter

Nicht nur im Regierungslager bilden sich neue Koalitionen und Interessengruppen heraus / Auch in der Opposition zeigt sich ein politisches Spektrum von Rechtsradikalen bis Linken / Offizielle Gewerkschafter und radikale Solidarnosc-Leute sitzen bei ihrer Kritik bei der Lohngleitklausel in einem Boot  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

Nicht nur die Journalisten, auch viele Teilnehmer an den Verhandlungen zwischen der Opposition und der Regierung brachten den Zickzack-Kurs des Vorsitzenden der offiziellen Gewerkschaft OPZZ, Miodowicz, mit dessen Reiserouten zusammen: In Moskau besuchte er Anhänger des Gorbatschow -Gegners Ligatschow, anschließend flog er nach Prag und Ost -Berlin und hoffte, von dort aus die Verhandlungen am runden Tisch zu torpedieren. Doch auch Miodowicz mußte einsehen, daß sich die Zeiten geändert haben. Statt Konterrevolutionären wie zu Breschnews Zeiten entdeckten sowjetische Zeitungen in Polen nur verantwortungsbewußte, gemäßigte Oppositionelle. Selbst Solidarnosc-Sprecher Onyszkiewicz zeigte sich positiv überrascht vom Tenor der sowjetischen Medien. Doch für Miodowicz gab es Bündnispartner in Polen - selbst von unerwarteter Seite.

Für Walesas Intimfeind und prominentesten Kritiker Andrzej Gwiazda ist das sozialistische System nicht reformierbar. Reformen sind allenfalls dann tolerierbar, wenn sie die Aussicht bieten, die Kommunisten zum Sturz reif zu machen. Solidarnosc, so meint Gwiazda, sei zu schwach, um zu verhandeln. Eine Alternative zu Walesas Verhandlungsführung hat er nicht, nur zu den Verhandlungen selbst: die Gewerkschaft in der Illegalität ausbauen und auf den Generalstreik vorzubereiten. So wundert es auch nicht, daß manche der Anhänger der radikalen Opposition um die illegale „Sozialistische Partei“, Abspaltungen der „Konförderation Unabhängiges Polen“ und die „Kämpfende Solidarnosc“, weiterhin im Untergrund bleiben, sich falscher Namen, konspirativer Wohnungen bedienen und Schüler und junge Arbeiter rekrutieren, um sie für den Straßenkampf mit den Polizeikommandos auszubilden.

Auch die Arbeiter in den Großbetrieben sind verärgert. Die ständig steigenden Lebenshaltungskosten können leicht Streiks provozieren. Streiks, auf welche die Gegner des runden Tisches auf beiden Seiten, bei OPZZ und Andrzej Gwiazda, fest bauen. Schon jetzt zeichnet sich als Reaktion auf Walesas moderate Haltung während der Verhandlungen in vielen Bezirksorganisationen der Solidarnosc eine Spaltung ab. Und zugleich läuft jenes informelle Stillhalteabkommen aus, das Walesa auf seinen Polenrundreisen bei den Belegschaften für die Verhandlungen eingefordert hatte. Bereits am Dienstag gab es die ersten Protestkundgebungen in der Danziger Leninwerft.

Der Fortgang der Verhandlungen selbst räumte mit einem Mythos auf, den die Opposition stets gerne genährt hatte daß sich Polen in zwei feindliche homogene Lager, in Staatsmacht und Gesellschaft, aufteilen lasse. Die Mauern in diesen beiden vermeintlichen Trutzburgen haben in den vergangenen Wochen tiefe Risse bekommen, mancher Burgfriede wurde aufgekündigt. Auch die Frage, ob Solidarnosc eine Gewerkschaft oder eine politische Bewegung, Arbeitervertretung oder Partei ist, scheint geklärt. Den härtesten Streit, der bis zur letzten Minute noch das Übereinkommen in Frage stellte, führte Solidarnosc nicht um Verfassungsfragen, sondern um die Frage der Einkommenssicherung der Beschäftigten.

Die Ergebnisse der Verhandlungen am runden Tisch sind weitestgehend ein Spiegel der tatsächlichen Kräfteverhältnisse im Land. Deutlich wird dies besonders bei jener vorläufigen Verfassung, die aus den Debatten der Untergruppe für politische Reformen hervorging. Für eine Parlamentsperiode hat die Partei noch die führende Rolle gesichert, hat die Staatsmacht in ihrer bisherigen Struktur das Übergewicht, wenn auch nicht mehr das Monopol, wie Arbeiterführer Walesa in seiner Abschlußrede betonte.

Aufgrund des Wahlmodus ist vorauszusehen, daß nicht nur der Sejm, also die erste Kammer des Parlaments, eine Machtbasis des Regierungslagers sein wird, sondern in noch viel größerem Maße der Präsident. Dessen umfassende Befugnisse stellen für die Partei die „Systemgarantie“ dar, die Bürgschaft, daß der „sozialistische Charakter des Staates erhalten bleibt“, wie es Sejm-Abgeordnete der PVAP nannten. Gerade sie waren in der Debatte um das Reformpaket sichtlich bemüht, die Reformen des runden Tisches als Vervollkommnung des Sozialismus darzustellen. Oppositionsvertreter ziehen sich zumeist damit aus der Affäre, daß sie fordern, den Begriff Sozialismus neu zu definieren, es gehe nicht um ideologische Begriffe, sondern um die Einführung von Pluralismus. Auch die Partei steckt hier in einem Dilemma, das die Ideologiekonferenz vom Januar nicht aus der Welt schaffen konnte.

Unter pluralistischen Bedingungen, meint ein Funktionär, bleibe der Partei nur die Wahl, die Flucht nach vorne anzutreten und selbst pluralistischer zu werden. Doch damit stellt die Partei ihr Machtmonopol selbst in Frage. Wohin die Partei geht, hat weder der runde Tisch entschieden noch konnten dies die diversen ZK-Beschlüsse tun. „Die Spaltung in Reformer und Stalinisten“, meint der Historiker Adam Michnik, „geht oft durch ein und dieselbe Person. Am runden Tisch konnten wir oft beobachten, wie der gleiche Parteifunktionär zuerst eine geradezu ketzerisch fortschrittliche Stellungnahme abgab, um einen Augenblick später wieder in das Vokabular eines stalinistischen Politfossils zurückzufallen.“

Der runde Tisch, das ist allen klar, eröffnet neue Möglichkeiten, aber die künftige Entwicklung schreibt er nicht fest. Die hängt ganz wesentlich auch davon ab, wie sehr sich alle Beteiligten an die Abmachungen gebunden fühlen und - wie sie sie umsetzen. „Wir wissen nicht, wohin die Reise geht“, gab der Vordenker der Opposition, Jacek Kuron, offen zu, „aber die Gegenseite weiß es auch nicht.“ Zu Anfang der Verhandlungen hatte der Historiker Adam Michnik drei Möglichkeiten einer weiteren Entwicklung Polens vorgestellt: die „iranische Variante“, bei der eine Diktatur per Revolution durch eine andere ersetzt wird, die „rumänische Variante“, bei der Reformen unterdrückt werden und das Land verelendet, und die „spanische Variante“ eines evolutionären, kontrollierbaren Übergangs von der Diktatur zur Demokratie.

Die am runden Tisch beschlossene Verfassungsreform wird nicht darüber entscheiden, welchen Weg Polen einschlagen wird, sie ist - das ist integraler Bestandteil der Abmachungen - nur für die nächste Parlamentsperiode gedacht. Was danach kommt, soll in den nächsten vier Jahren erarbeitet werden. Wie es dann weitergeht, entscheiden die Kräfteverhältnisse im politischen Spektrum, das sich nun erstmals aufgrund der innenpolitischen Öffnung abzuzeichnen beginnt.

Sowohl in der Regierung als auch in Teilen der Opposition kursiert noch ein viertes Entwicklungsmodell als Vorbild für Polen: Südkorea. Wie der Kommentator Daniel Passent von 'Polityka‘ schon vor über einem Jahr verkündete, könne man die Demokratisierung ja auch dem „gedeckten Tisch“ opfern. Die Polen, so behauptet Ministerpräsident Rakowski gerne, seien ohnehin noch nicht reif für freie Wahlen und hauptsächlich an Brot und Spielen interessiert. Und die Wirtschaftsliberalen der Opposition sind einem „Polizeistaat plus freie Marktwirtschaft“ nicht abgeneigt. Dies zeigt, daß unter jenen, die am runden Tisch Platz genommen haben, Pluralismus und Demokratisierung nicht unbedingt an erster Stelle stehen. Gerade die innenpolitische Öffnung der letzten Monate hat deutlich gemacht, daß es in Polen ein weites Feld politischer Interessen gibt, das sich weder der Opposition noch der regierung eindeutig zuordnen läßt. Es reicht von Privatunternehmen bis zur katholischen Kirche.

Es ist bereits abzusehen, daß die Kirchenvertreter an einem künftigen runden Tisch nicht mehr als Beobachter, sondern als Partei sitzen werden, mit Anliegen, die vom Religionsunterricht bis zur Abtreibung reichen. Manche rechnen gar mit einer Pluralisierung und Öffnung der Kirche selbst. Ein Prozeß, der sich auf unterster Ebene bereits seit geraumer Zeit abzeichnet. Zwar werden die Vorgänge im Episkopat selbst noch besser von der Außenwelt abgeschirmt als die Debatten im Politbüro der Partei, doch findet schon seit Jahren auf der Ebene der Laienorganisationen ein deutlicher Differenzierungsprozeß statt. Alle Richtungen des polnischen Katholizismus, die früher noch von den Clubs der katholischen Intelligenz (KIK) zusammengehalten wurden, haben inzwischen ihre eigenen Vereinigungen gegründet, vom Debattierclub bis zur Partei.

Auch das extrem rechte Spektrum hat inzwischen seine Nische gefunden im neuen polnischen Pluralismus. Noch vor Beginn des runden Tisches erschien in Warschau eine Jubiläumsausgabe der 'Gazeta Warszawska‘, herausgegeben von dem „nationalsozialistischen“ Berater des Primas, Maciej Giertych, und dessen Bruder Jedrzej, einem wirren antisemitischen Londoner Exilpolitiker. Nur die Aufmachung und der Preis unterschieden das gegen Juden und „trotzkistische Umstürzler in Solidarnosc“ gerichtete Pamphlet von den Bulletins jener politischen Fossilien, die in einem kleinen Büro in der Warschauer Innenstadt unter dem Namen „Patriotische Vereinigung Grunwald“ mit minderheitenfeindlichen, antidemokratischen und nationalistischen Parolen das Fähnlein der „wahren Polen“ in der PVAP aufrechterhalten.