Differenzierung

■ Der Kompromiß führt Solidarnosc in eine Zerreißprobe

Der Gesellschaftsvertrag zwischen der Regierung und der Opposition in Polen widerlegt all jene, die daran glaubten, daß das kommunistische System nicht reformierbar sei. Der Kompromiß und die Verhandlungen selbst haben das Machtmonopol der Partei eingeschränkt. Und Solidarnosc ist Macht zugewachsen. Doch die jetzt wieder legale Gewerkschaft kann immer noch nicht das sein, wozu sie gegründet wurde: die Vertreterin der Interessen der arbeitenden Bevölkerung.

Walesa und seine Berater mußten nämlich in ein Kleid schlüpfen, das ihnen nicht paßt. Schon seit langem haben sie zwar mit politischem Geschick die Reform der Gesellschaft vorangetrieben. Die unmittelbaren Interessen der Arbeiter wurden aber hintangestellt. Und so ist es kein Wunder, daß die Bremser der Reform, die offiziellen Gewerkschaften mit ihrer radikaleren Rhetorik, plötzlich bei vielen Polen Punkte sammeln. Auch innerhalb von Solidarnosc wird Walesa als Kompromißler kritisiert.

Solange jedoch keine glaubwürdigen politischen Parteien existieren, wird sich daran nichts ändern. Wenn Walesa jetzt schon von drei möglichen Gewerkschaften spricht, kalkuliert er die Spaltung seiner eigenen Organisation mit ein. Und da es auch im Regierungslager kriselt und die politischen Kämpfe immer heftiger ausgetragen werden, läuft alles auf einen noch engeren Schulterschluß von Reformern im Regime und dem Walesaflügel von Solidarnosc hinaus. Die Theorie, die polnische Gesellschaft in zwei Lager, die der Opposition und des Regimes, aufzuteilen, ist jedenfalls obsolet geworden. Was noch vor Wochen als Witz gehandelt wurde, könnte bald schon eine realistische Perspektive werden: eine Koalition der jetzigen Verhandlungspartner.

Erich Rathfelder