Tropfenweiser Aderlaß

■ Die Gesundheitsreform beutelt vor allem die chronisch Kranken / Eine erste Bilanz von Vera Gaserow

Kein Gesetzeswerk der letzten Jahre hat so viele negative Schlagzeilen produziert wie dieses, keines traf so zielsicher die plötzlich offenliegende Nervenverbindung zwischen Gesundheit und Geld. Ein „Jahrhundertwerk“ sollte die Gesundheitsreform werden und klebt statt dessen wie Pech an ihren Schöpfern, Bundesminister Norbert Blüm und seiner Partei. Als Wahlhelferin für SPD und Grüne hat die Gesundheitsreform der CDU in Berlin und Frankfurt rasante Stimmenverluste eingebracht. Am 1.Januar ist sie in Kraft getreten - die taz präsentiert erste Erfahrungen aus dem Quartal danach.

Doch, doch, versichert Norbert Blüms Pressesprecher, die Stimmung gegen die Gesundheitsreform schwenke deutlich um. Es gebe jetzt sogar einige positive Reaktionen. Man mag es den Gesundheitsreformern nachsehen, daß sie nach monatelangen öffentlichen Prügeln ein paar Streicheleinheiten dankbar als Stimmungsumschwung interpretieren. Aber davon, daß die Erfahrungen mit dem Gesetzeswerk „ermutigend“ seien, wie Norbert Blüm am Mittwoch bekundete, kann keine Rede sein.

Tatsächlich ist es stiller geworden um die Gesundheitsreform, seit sie am 1. Januar in Kraft getreten ist. Ärzte, Krankenkassen, Berufsorganisationen und Standesfunktionäre haben alle Hände voll zu tun, sich durch die bürokratischen Vorschriften des 300 Paragraphen dicken Gesetzeswerkes durchzuwühlen und zu raten, was wohl im einzelnen gemeint sein könnte. Und die Patienten, die kurzzeitig als eine gemeinsame Front von empörten Betroffenen erschienen, stehen nun vereinzelt in Arztpraxen und Apotheken und merken, daß ihnen die Blümsche Zumutung je nach Geldbeutel und Krankheit ganz unterschiedlich weh tut.

Die lautstarke Empörung ist einem beständigen Grummeln gewichen, aber auch einiger Verwunderung. So schlimm wie befürchtet sei es ja gar nicht, berichten Ärzte über die Reaktion etlicher Patienten. Viele hatten sich offenbar auf eine noch bittere Medizin eingestellt. Allerdings bekommen die meisten in diesen ersten Monaten einen gesüßten Vorgeschmack, denn das Blümsche Gesamtwerk wird nur tropfenweise verabreicht: zeitversetzt und immer höher dosiert - vor allem für diejenigen, die schwer krank sind und ohnehin wenig Geld haben.

Da ist zum Beispiel das Kernstück der bundesdeutschen Schulmedizin, die Chemie. Für jedes Medikament auf Rezept müssen Patienten jetzt eine Mark mehr bezahlen als zuvor. Doch der große Aufschrei wird erst in der zweiten Jahreshälfte ausbrechen, wenn für einige Wirkstoffgruppen die sogenannte Festbetragsregelung eingeführt wird. Von dann an gibt es nur noch die jeweils billigsten unter vergleichbaren Präparaten auf Rezept. Eine durchaus sinnvolle Regelung, um den Konkurrenzkampf zwischen zahllosen chemisch identischen Produkten einzudämmen, meinen auch linke Ärzte.

Patienten, die dennoch das gewohnte teurere Präparat verschrieben bekommen, weil ihr Arzt vielleicht gerade von einem Pharmavertreter mit einem kleinen Präsent „überzeugt“ wurde, haben das Nachsehen. „Nach den Sommerferien wird das noch irrsinnige Diskussionen in den Sprechzimmern und Apotheken geben“, prophezeien Ärzte und Apotheker. Wirklich ans Geld wird es jedoch erst 1992 gehen, wenn Patienten für all die Medikamente, für die es kei ne Festbeträge gibt, 10 Prozent aus eigener Tasche zahlen müssen.

Auch beim finanziell dicksten „Klopper“ der Gesundheitsreform, der gestiegenen Eigenbeteiligung zum Zahnersatz, werden die praktischen Folgen erst Mitte des Jahres spürbar werden. Fünfzig Prozent der Arzt- und Laborkosten müssen Patienten seit Anfang des Jahres für Zahnprothesen, Brücken oder Kronen bezahlen, doch derzeit arbeiten die Zahnärzte und Dentallabors noch die Aufträge vom letzten Jahr ab. Denn Pfiffige haben noch kurz vor Torschluß ihr neues Gebiß nach der alten Regelung beantragt. Nicht zuletzt deshalb verzeichnen die gesetzlichen Krankenkassen für 1988 ein Defizit von einer Milliarde Mark, während die Bilanz für 1987 beinahe ausgeglichen war.

Derzeit herrscht, was Zahnersatz angeht, in den Arztpraxen erst einmal Flaute. Doch falls dann im Sommer die Krone unausweichlich wird, kommt kaum jemand mehr unter 300 Mark davon, und für eine Brücke müssen Patienten künftig runde 800 Mark auf den Tisch legen. „Dann können wir den Leuten gleich zu einem Kleinkredit raten“, meint eine Zahnärztin. Was eher sarkastisch klingen soll, ist längst Realität. Geldinstitute und kommerzielle Rechenzentren, die immer häufiger im Auftrag der Zahnärzte die komplizierte Abrechnung übernehmen, haben mit ihrem Werbematerial bereits Einzug gehalten in die Wartezimmer. Den Patienten bieten sie einen Kredit für die Lücke im Mund, und den Ärzten versprechen sie, das Geld einzutreiben.

Finanziell glimpflicher kommt derzeit noch davon, wer eine neue Brille braucht. Daß die „Sehmaschinen“ nach der Blüm -Reform teurer werden, hat Ende des letzten Jahres einen Run auf Augenärzte und Optiker ausgelöst. Zwar sind es nur zwanzig Mark, die das Brillengestell nun teurer wird. Dennoch hat diese Differenz dafür gesorgt, daß die Optiker Ende letzten Jahres Umsatzsteigerungen von 100 Prozent zu verzeichnen hatten. Jetzt beklagt die Optikerbranche Einbußen zwischen 30 und 70 Prozent gegenüber den Vorjahren, und nur die Billiganbieter, die auch nach der Gesundheitsreform mit Brillen zum Nulltarif werben können, machen weiterhin ihren Schnitt. „Im Sommer“, so meint ein Vertreter eines großen Brillenunternehmens „wird das Optikersterben beginnen.“ Dann nämlich werden die Krankenkassen voraussichtlich das Blümsche Angebot annehmen, die Zuschüsse für Brillengläser nach eigenem Ermessen zu kürzen. Ob die alte Brille zum Zeitungslesen noch ausreicht oder nicht, wird bei vielen dann der Geldbeutel entscheiden.

Diese Abstimmung mit dem Portemonnaie hat in einem anderen Bereich schon stattgefunden. Seit Anfang Januar werden Taxifahrten zu einer ambulanten Behandlung nicht mehr von der Kasse übernommen. Nur für den Weg ins Krankenhaus zahlt die Kasse einen Zuschuß, wenn der Betrag über 20 Mark liegt. Gut zwei Drittel dieser Krankentransporte per Taxi wurden bisher von alten Leuten in Anspruch genommen - die aber, so meint der Sprecher des Zentralverbands der Personenbeförderungsunternehmer, „können sich das einfach nicht mehr leisten. Dabei weiß jeder, daß die nicht aus lauter Jux und Dollerei irgendwohin gefahren sind“. Bei zwei Dritteln der Taxiunternehmen, so ergab eine Umfrage des Zentralverbandes, sind diese Krankenfahrten um mindestens 50 Prozent zurückgegangen. Auf dem „platten Land“, wo das Taxi häufig die einzige Verkehrsverbindung zum Arzt oder Krankenhaus ist, verzeichnen die „Kutscher“ Umsatzrückgänge bis zu 80 Prozent. Etliche Fuhrunternehmen mußten schon Angestellte entlassen, Taxiinnungen in ländlichen Bereichen registrieren Betriebsschließungen und Konzessionsrückgaben.

Besonders alte Leute oder Mütter mit kleinen Kindern scheuen jetzt den Weg zum Arzt, weil sie schlicht die 40 oder 50 Mark für die Fahrt nicht übrig haben. Akute Krankheiten werden verschleppt, und für chronisch Kranke, die wie beispielsweise Krebs- oder Dialysepatienten regelmäßig zur ambulanten Behandlung in ein Krankenhaus müssen, machen die Taxikosten die Behandlung unbezahlbar.

Auf den ersten Blick ebenfalls um kleine Beträge von 17,34 Mark oder 22,50 Mark geht es bei einem anderen „Eckpfeiler“ der Gesundheitsreform, den „Heilmitteln“. Zehn Prozent der Kosten für Massagen, krankengymnastische Behandlung oder Bestrahlungen müssen Patienten nun selbst zahlen. Da es sich pro Behandlungseinheit in der Regel nur um Kosten in Höhe eines Busfahrscheins handelt, zahlen die meisten Patienten zähneknirschend - manche sind aber auch überrascht, daß die Beträge nicht höher sind. Empfindlich getroffen sind jedoch auch hier die chronisch Kranken, die über längere Zeit eine regelmäßige Therapie benötigen und für die sich die Kleinbeträge zu einem relevanten Kostenfaktor im Monatsbudget summiern (siehe Kasten).

Einen Rückgang der Behandlungen haben die KrankengymnastInnen im ersten Quartal der Gesundheitsreform nicht zu verzeichnen, dafür aber einen gehörigen Mehraufwand bei der Abrechnung.

Solche Klagen hört man allerorten von Ärzten, Krankenkassen und Berufsverbänden, die sich schon längst die Frage stellen, worin denn eigentlich des Spareffekt des Blümschen Jahrhundertwerks liegen soll. Dank der Streichungen bei den Fahrtkosten werden gerade alte Leute den Arzt häufiger zu sich nach Hause bitten müssen - was im Endeffekt die Kassen teuer zu stehen kommt. Und in akuten Fällen, bei einem gebrochenen Arm oder einem kleinen Unfall werden die Patienten gleich einen zehnmal teureren, aber von der Kasse bezahlten Rettungswagen rufen. Patienten, die bisher regemäßig ambulant in Krankenhäusern versorgt wurden, werden sich in Zukunft gleich in ein täglich 300 Mark teures Krankenhausbett begeben.

An dem Hauptkostenfaktor, den Krankenhäusern, die 35 Prozent der Gelder im Gesundheitswesen verschlingen, hat die „Reform“ bis auf einen symbolischen Eigenbeitrag für Patienten ohnehin nichts verändert. Statt dessen bringt die Gesundheitsreform derzeit einen ungeheuren bürokratischen Aufwand bei Ärzten, Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen und Apotheken, der sich finanziell und personell noch gar nicht beziffern läßt. Um zum Beispiel als „Härtefall“ anerkannt, von Gebühren für Heilmittel und Rezepte freigestellt zu werden, müssen Patienten jetzt detailliert nachweisen, daß sie nicht mehr als 1.260 Mark im Monat verdienen. Und wer am Ende des Jahres einen Teil seiner Heilmittelkosten ersetzt bekommen will, weil sie zwei Prozent seines Jahreseinkommens übersteigen, muß jetzt sämtliche Ausgabenbelege sammeln. Eine bürokratische Buchhaltungswissenschaft, der gerade die sozialen Gruppen nicht gewachsen sind, für die diese finanzielle Abfederung gedacht war. „Die ganze Gesundheitsreform“, so kommentiert ein Berli ner Arzt knapp, „ist nichts weiter als die Ausgeburt eines Bürokraten hirns!“