Aus dem Laboratorium der Sozialpolitik

■ Henning Scherf lud die bundesdeutschen Sozialpolitik-Experten zu einem politikberatenden „workshop“ über die Konzepte von „Grundsicherung“ (SPD-Programmatik) und Grundeinkommen (u.a. Grünen-Programmatik) ein

Der Bremer Bürgermeister Henning Scherf, der sich nebenbei im SPD-Parteivorstand in Bonn immer wieder einen bundespolitischen Namen zu machen versucht, ist dafür bekannt, daß er zuweilen ins Blaue denkt, im Spagat gegen die auch von ihm zu vertretender konkrete Politik.

Während die Sozialhilfe-Empfänger in Bremen sich mehrfach heftig darüber beklagt haben, daß sie die magere alljährliche Erhöhung ihres Existenzminimum-Satzes erst mehrer Monate verspätet erhalten, während auch in Bremen insbesondere alten Frauen nicht erspart bleibt, Verdienstbescheidungungen ihrer Kinder anzufordern, will der SPD-Politiker Scherf weiter denken. Zu diesem Zwecke waren am Donnerstag über ein Dutzend der renommiertesten bundesdeutschen Sozialwissenschaftler zu einem „workshop“ ins Rathaus geladen, um ihren wissenschaftlichen Sachverstand zum Thema „Soziale Grundsicherung“ beizutragen.

Was ist „Grundsicherung“?

Hinter dem Terminus „Grundsicherung“ steckt die Idee, eine existenzsichernde Geldsumme festzulegen, auf die jeder legale Bürger den Bundesrepublik einen Anspruch hat. Wie hoch dieser Grundbetrag sein, soll, ob es ein individueller Anspruch sein soll und damit auch (Ehe-) Frauen zugute kommen oder ob Familien-Einkommen angerechnet werden, in welchem Verhältnis diese „Grundsicherung“ zur Renten-, Arbeitslosen-oder anderen Versicherungen stehen, - all das ist Thema einer breiten Debatte in

der Sozialpolitik.

Wie kompliziert das Problem ist, stellte der Vertreter de Münchener ifo-Instituts, Prof. W.Leibfritz, der Runde vor. Derzeit gibt es Einkommensgruppen, bei denen von 100 Mark Mehrverdienst zwischen 50 und 90 Prozent „kassiert“ werden, weil Sozial-Leistungen wegfallen und Steuersätze steigen. Eine Logik ist da nicht zu entdecken und sozialpolitisch zu rechtfertigen ist dieser Zustand in keinem Fall.

Möglichst wenig ändern

Der Frankfurter Ökonom Prof. Hauser sah es unter dem Gesichtspunkt der Durchsetzbarkeit von Änderungen in dem komplizierten System der sozialen Transfers-Einkommen als einen Vortel an, wenn eine Änderung die „geringste Änderung“ verspricht. Hauser wird, so erfuhr auf dem „workshop“ von Scherf, vom SPD-Parteivorstand den Auftrag erhalten, die in Münster von den SPD-Delegierten beschlossenen Reform -Programmatik für die politische Praxis in Bonn zu konkretisieren.

Denn die SPD-Fraktion hat zwar in Bonn sich mit der CDU auf einen Rentenkompromiß geeinigt, dies soll aber, so zumindest verspricht Scherf, nicht das letzte Wort sein. Die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck-Oberdorf hatte den Bremer Sozialsenator, der in seiner Bundesfunktion an den Vordiskussionen zum „Rentenkompromiß“ beteiligt war, heftig angegriffen, sie fürchtet, daß das Thema nun auch von SPD -Seite ad acta gelegt werden soll, zumal FinanzpolitikerInnen wie Ingrid Matthäus-Meier schon eingewandt haben,

die SPD-Parteitagsprogrammatik sei nicht finanzierbar. Immerhin verschlingen die Renten einen Löwenanteil der sozialen Transfer-Einkommen, und die prognostizierbare Alterspyramiede bedroht das System der Sozialversicherungen, v. a. bei den Renten.

Scherf beteuerte am Donnerstag, die beschlossene Grundsicherung „ist und bleibt zentrales Projekt“ sozialdemokratischer Politik. Den Federführer des Kompromisses, den SPD-Bundestagsabgeordneten Dressler, mochter Scherf dabei nicht verteidigen. Da sei ein „rätselhaftes Bündnis“ geschlossen worden, der SPD -Parteitagsbeschluß sei „wahrscheinlich nicht ernst genug vorgetragenm“ worden und es habe an „Konkretisierungen“ gefehlt.

Grundeinkommen für alle?

Der Bremer Sozialsenator hatte zu seinem „workshop“ ganz bewußt auch eine radikalere Variante der Sozialreform, die unter dem Stichwort „Grundeinkommen“ firmiert, einbgeladen. Daß angesichts der Rationalisierungs-Geschwindigkeit die Arbeit und das Arbeitseinkommen der Maßstab der sozialen Versicherungs-Systeme sein soll, das leuchtet eigentlich nicht ein. Daran halten aber traditionelle Sozialpolitiker auch im Arbeitnehmer-Lager fest, wie Scherf bemerkte: „Die beiden -gemeint: der CDU-Minister Blüm und der federführende SPD-Fraktions-Vertreter Dressler - sind sich da ganz ähnlich“. Scherfs Vorstoß einer „Wertschöpfungsabgabe“ sei in Bonn „überhaupt nicht diskutiert worden“. Für das Bremer Autoren-Trio Uli Mückenberger, Ilona

Ostner und Claus Offe trug letzter die Gründe für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Grundeinkommen vor. Die Bundesrepublik sei ein reiches Land, das seine Wohlfahrt -Mittel ineffizient verbraucht. Offe sprach sogar von „Schweigegeld für die Mittelklasse“, mit dem ein gesell

schaftlicher Konsens über die Ausgrendzung von bis zu 25% der Bevölkerung erkauft werden. Einerseits werde auf absehbare Zeit ein Teil der Menschen im Wirtschaftsprozeß nicht gebraucht, andererseits gebe es gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten, für die die Erwerbsarbeit

eine ungeeignete Form - nur ein „Paket“ von Veränderungen könne eine moderne Antwort darauf sein: Über ein „Grundeinkommen“, müsse jeder Staatsbürger von Existenzängsten befreit leben können und frei wählen, ob er/sie gesellschaftlich notwendige Arbeiten tun wolle, die nicht „formell“ als Lohnarbeit organisiert ist. Über eine generelle Arbeitszeitverkürzung müßte die Anzahl der Arbeitspläze erhöht werden, d.h. die vorhandene Arbeit verteilt werden. Über eine generelle Quotierung, ergänzte seine Mitarbeitein Ilona Ostner, müsse verhindert werden, daß dabei nur eine Alimentierung von Hausfrauen-Arbeit herauskläme.

Wie dieses Grundeinkommen zu den bisherigen Sozial -Einkommen aus staatlichen Hilfen und Versicherungs -Ansprüchen stehen kann, ob es für jedes Individuum gelten soll oder nur für die Familien, die unter einer festzulegenden Einkommens-Grenze liegen, das alles wollten die „Bremer“ Autoren offenlassen. Sie mußten sich von den Verfechtern der traditionellen Reform-Konzpten vorwerfen lassen, so allgemein seien mögliche Probleme dieser radikalen Reform nicht diskutiertbar und PolitikerInnen sei das nicht zu „verkaufen“.

Aber immerhin war der Bremer Bürgermeister nicht ganz unbeteiligt daran, daß Claus Offe mit dem Bremer Institut für Sozialpolitik die Möglichkeit hat, radikalere Sozialreform-Konzepte auszuarbeiten - wenn er auch am Donnerstag noch nicht recht zu überzeugen schien.

Klaus Wolschner