Tobend dumpf

■ Die Erlanger Bergkirchweih

In Süddeutschland (in diesem speziellen Fall Franken) hat das Sich-kollektiv-Betrinken zu speziellen Anlässen eine viel ältere Tradition und genießt eine Achtung und Akzeptanz quer durch breiteste Volksschichten, die jedem Berliner für die Süddeutschland meistens auch schon kurz hinter Potsdam anfängt- auf ewig fremd bleiben wird. Billige alliierte Retourkutschen wie das Deutsch-Amerikanische Volksfest können die Faszination des allgemeinen Taumels, der ganze Regionen befällt, wenn ein Kirchweihfest näherrückt, bestenfalls in Ansätzen nachvollziehbar machen.

Was ist schon eine kleine Schlägerei zwischen Skins und GIs im Vergleich zu den Schlachten, die sich die Kerwaburschen (Kerwa: fränkischer Slang für Kirchweih) verfeindeter Dörfer liefern, wenn es den einen gelungen sein sollte, den Maibaum der anderen abzuschälen? Wie sollten die Vergnügungen gewohnten Stadtmenschen verstehen können, daß Horden von Bauernburschen und -mädels, ausgehungert nach dem anderen Geschlecht, die einzige Möglichkeit des ganzen Jahres gnadenlos zum Anbaggern nutzen? Was können die Berliner Volksfeste schon mehr bieten als amerikanisches Eis, und was ist das, wenn man auch gebrannte Mandeln, Liebesäpfel, Rettich mit Salz, Weiß-, Blut- oder Leberwürste haben könnte? Keinem Vergleich hält auch das labbrige Plastikbier einschlägiger Berliner Brauereien stand, das man im Süden, wo fast jede Brauerei ein spezielles Kirchweihbier produziert, als Folter empfinden würde. Ganz abgesehen von den 1-Liter-Tonkrügen, die hier wahrscheinlich als Mordwerkzeuge mißverstanden würden.

Die Erlanger Bergkirchweih ist, wenn man den Chroniken glauben will, das älteste Volksfest Deutschlands, ja sogar älter als das Oktoberfest, weswegen die unterdrückten Franken die traditionslosen Bayern auch mal milde belächeln dürfen. Seit Hunderten von Jahren findet die Berchkerwa jedes Jahr zu Pfingsten statt und erhielt ihren Namen einfach daher, daß sie Jahr für Jahr auf der einzigen nennenswerten Erhebung Erlangens stattfindet - die Franken sind geradezu berüchtigt für Pragmatismus und wenig Phantasie. Die Dauer von zwölf Tagen ist historisch verbürgt und ehernes Gesetz, und heftigste Diskussionen schüttelten die ganze Stadt, als die Kerwa vor wenigen Jahren auf Betreiben der Wirte um einige Tage verlängert werden sollte, weil es vorher anhaltend geregnet hatte und das Geschäft entsprechend schlecht war, denn das meiste Bier fließt, im Gegensatz zum Oktoberfest, nicht in den riesigen Zelten, sondern in den mit Brauereitischen bestückten Gärten, die Keller genannt werden, nach den alten Bierlagerkellern über denen sie liegen. Zwar würde sich kein ernsthaft amüsierwilliger Urerlanger von solcher klimatischer Unbill abschrecken lassen, aber inzwischen treibt es jedes Jahr zu Pfingsten auch Scharen von Touristen, momentane und frühere Studenten oder ehemalige Gastarbeiter aus Restdeutschland zurück ins Frankenland, ganz zu schweigen von den Horden an Geschäftsleuten, denen der Siemens-Konzern (20.000 Arbeitsplätze bei 100.000 Einwohnern) ein unvergeßliches Erlebnis typischer fränkisch dumpfer Lebensart bieten will.

Die Berchkerwa ist nicht einfach ein Volksfest, dieser zwölftägige kollektive Rauschzustand ist heftigster Kult. Kneipen schließen während dieser Zeit, die Studenten haben außer der Reihe zwei Wochen Semesterferien, es gibt spezielles Kerwabier von mehreren Brauereien, und Leute schließen Wetten ab, daß sie jeden Abend auf dem Berg verbringen, und belegen dies mit geklauten Bierkrügen. Sonderpunkte bringen zusätzlich noch die Frühschoppen, die aber nur minderes Ansehen genießen, weil sie meist mit der ganzen Familie verbracht werden.

Doch erst abends erwacht die Stadt, erholt vom Kater der letzten Nacht und füllt den Berg mit tobendem Leben. Sehr oft braucht man Minuten, um nur wenige Meter von einem zum nächsten Keller zurückzulegen, weil in der klautrophobischen Enge geschubst, gestoßen und gegrabbelt wird und man mehr getragen wird, als daß man selber geht. In den verschiedenen Keller sammeln sich die verschiedenen Klientel, aber „auf'n Berch“ gehen jeden Abend alle, vom Punk bis zur Oma, vom Ökostudenten bis zum Siemensangestellten, hier trifft sich alles, was einen Maßkrug halten kann. Die traditionellen Volksfestsensationen wie Schießbuden und Riesenrad sind hier nur Verzierungen und halten kaum jemand davon ab, sich möglichst schnell die Birne zuzuknallen, bis Tausende von Leuten im Chor sehr treffende Blödsinnigkeiten wie „Prost, Prost, Kamerad/ Prost, Prost, Kamerad/ Wir wolllen einen heben/ Prost, Prost, Prost“ gröhlen. Werden die geleerten Maßen mehr, werden auch die Lieder immer hirnrissiger: „Was is mit der Musi/ Daß mers gar nich mehr hört?/ Die sitzen in der Küchen/ und spieln aufm Herd.“ Je schwärzer die Nacht und schummriger die Beleuchtung, desto heftiger die Texte: „Drom auf'm Berch steht a Fabrik/ da werden die Weiber elektrisch gefickt.“ Dazu wird dann Ringelpietz mit Anfassen gespielt, für nicht wenige der erste Kontakt mit dem anderen Geschlecht, und möglichst viele Biertische werden beim Tanzen in den Lehmboden gerammt.

Punkt eins ist Ende, und alles wälzt sich Richtung City oder in die benachbarten Dörfer. Die Schlauen mit dem Fahrrad, der Rest läßt sich in Massen von den Mausefallen kassieren, aber morgen sind wieder alle da, zumindest fast alle, es muß ja weitergehen, und dieses alljährliche Ritual ist wahrlich wichtiger als der Führerschein.

Thomas Winkler