Vorlauf: Leichen erzählen

■ Der eisige Schlaf

(Der eisige Schlaf, Samstag, N3, 19.15 Uhr) Über dreihundert Jahre lang hatte man sie vergeblich gesucht - die Passage im Norden des amerikanischen Kontinents, die den Weg von Europa in den Pazifik und nach China erheblich abkürzen und die Unbill des windigen Kap Horn ersparen sollte. Alle Abenteurer mußten aufgeben, viele kehrten nicht zurück, weil die Packeismassen ihre Schiffe zerquetscht hatten. Einige konnten sich in langen Monats- oder Jahresmärschen durch die riesigen Jagd- und Fischgründe der Eskimos nach Süden durchschlagen, andere überlebten mehrere Polarsommer und -winter in der Wildnis aus Eis und Geröll, bevor sie an Hunger und Skorbut starben.

Das alles sollte nun viel bequemer werden, als am 19.Mai 1845 der britische Kapitän John Franklin mit 129 Mann und zwei Schiffen („Erebus“ und „Terror“) von England aus in See stach. Die ganze Nation war fest von seinem Erfolg überzeugt, waren doch beide Fahrzeuge aus dem Lande der industriellen Revolution äußerst komfortabel mit dem letzten Schrei der Technik ausgestattet. Ganze Lokomotiven wurden in die Schiffsrümpfe eingebaut zur Beheizung und zum Antrieb der neuartigen Schiffsschrauben. Vor allem in der neuen natürlich britischen - Erfindung der Konservendose sah man das wichtigste Problem langer Schiffreisen gelöst: Die Nahrungsbevorratung. 8.000 Dosen mit bis zu vier Kilo Inhalt bekam der Smutje diesmal in seine Schränke. Der Mißerfolg war also technisch ausgeschlossen.

Doch zwei Jahre gingen ins Meer, und kein Nordlandfahrer konnte irgendeine Nachricht von Franklin überbringen, drei Jahre, vier Jahre... Eine Vielzahl von Suchexpeditionen wurden schließlich nach und nach auf Franklins Spuren gesetzt. Einige teilten sein Schicksal und blieben vermißt. Erst 1850 fand man in der Gegend der King-William-Insel, der Schlüsselstelle in der Passage, drei Gräber. In den Jahren darauf kam mal hier ein Skelett zum Vorschein, dort lose Knochen, die Spuren von Kanibalismus andeuteten, sowie Kleidungs- und Essensreste und derlei Utensilien. Woran aber die großangelegte Expedition letztlich gescheitert war, blieb im Dunkel der Eismeer-Geschichte verborgen. Vieles deutete allerdings darauf hin, daß die Männer, als sie ihre Schiffe verlassen hatten, nicht mehr Herr ihrer Sinne waren. Dem Anthropologe Owen Beattie und seinem Forscherteam war es schließlich in den 80er Jahren dieses Jahrhunderts vorbehalten, Licht in dieses Dunkel zu bringen und eine eigentlich recht banale Erklärung für den Untergang von Franklins Mannschaft zu finden. Tiefgefrorene, gut konservierte Leichen standen ihnen zur Autopsie zur Verfügung...

Bleibt noch anzumerken, daß es schließlich Roald Amundsen vorbehalten war, die Passage als erster zu durchfahren jenem Polarforscher aus dem technisch-industriell so unambitionierten Norwegen, der mit Hundeschlitten ausgerüstet auch dem Engländer Robert Falcon Scott den Sieg im „Kampf“ um den Südpol nahm, welcher mit modernstem Motorgerät angetreten war.

Für die interessierten Amateur-Polarforscher, die heute abend keine Zeit haben, gibt's das recht spannende Buch zum Film aus dem vgs-Verlag: Der Eisige Schlaf von Owen Beattie und John Geiger mit einem Vorwort von Sten Nadolny (Autor des Romans Die Entdeckung der Langsamkeit über John Franklin). Ulli Kulk