: BLINDER PASSAGIER
■ Raymond Roussel - Prototyp des Pauschaltouristen
Circa zwei Millionen Bundesrepublikaner verbringen ihren Urlaub on the road, als Camper in Zelt, Wohnwagen oder Wohnmobil. Während das Haus auf Rädern in Europa überwiegend ein Spielzeug der Reichen ist, gehört es in den USA zur Grundausstattung des industriellen Tagelöhners. Das „rolling home“ ist eine literarische Erfindung.
Raymond Roussel (1877-1933), dessen Schreib- und Erzählformen von Dali und Duchamp, Alain Robbe-Grillet und Konrad Bayer adaptiert wurden und den die philosophischen Programme von Surrealismus und Strukturalismus zu ihren Ahnen rechnen, war, wie es scheint, der erste, der auf die Idee kam, Wohnung und Auto zu montieren, um damit, ohne den Ort zu wechseln, eine ausschließlich senti-mentale Reise zu unternehmen. Auf Schneckenstraßen
Roussel betrieb das Reisen als selbstgenügsamen Sport und versuchte, die Welt auf möglichst abwechslungsreiche Art zum Dorf zu machen - ohne daß es ihn jemals lange genug an einem Zwischenziel hielt, um mehr zu sehen als was derBaedeker vorschrieb.
Eine seiner ersten Reisen ist eine Schiffskreuzfahrt mit der Mutter. Sie hat ihren Sarg dabei, mit Sichtfenster, damit ihr Sohn sie noch sehen kann, bis die Erde auf ihr Gesicht fällt. Den interessiert an Bord nur das Kreuz des Südens, eine Sternenkonstellation über dem Äquator. Ozeandampfer sind gerade chic, weil neu. Die upper class der Belle Epoque, als ahne sie ihren Untergang, geht geschlossen aufs Wasser, um von Hafen zu Hafen herumzutreiben.
Roussel war ein exzessiv Reisender. Kaum ein Land, das er nicht besucht, kein Kontinent, den er nicht gekannt, keine Form des Reisens, die er ausgelassen hätte. Aber er ist nicht der Typ des Weltenbummlers, den die Neugier in die Fremde lockt. Im Gegenteil: „Alles Neue quält mich“, erkannte er selber. Die kleinste Veränderung seiner täglichen Gewohnheiten, das geringste unerwartete Ereignis machte ihm Angst. Schmutz peinigte ihn, Verschleiß in jeder Form verursachte ihm Ekel. Ein Hemd trug er höchstens zweimal, einen Anzug fünfzehnmal.
Reisend unterbrach er nicht seine Gewohnheiten, sondern warf ihr Netz über die ganze Erde. Seine Reisen tilgten den Gegensatz von Fern und Nah. Wohin er auch kam, er sah allenthalben nur das längst Bekannte.
In Peking besichtigt er in aller Eile die Stadt, um sich dann bis zur Abfahrt schreibend in sein Hotelzimmer zurückzuziehen. Auf die wundervollen Sonnenuntergänge angesprochen, die er auf einer Schiffsreise durch Ozeanien hätte erleben können, erwiderte er, er habe nichts davon gesehen, sondern unter Deck in seiner Kabine an seinem neuen Roman gearbeitet. Durch Reiseliteratur, Theater und Fotografie ist er bereits bestens über das Fremde orientiert: „Jetzt bin ich in Bagdad, der Heimat von Tausendundeine Nacht und von Ali Baba, was mich an Lecocq (ein seinerzeit populärer Opernautor) erinnert; die Leute tragen noch ungewöhnlichere Kleidung als die Statisten im Theatre de la Gaite.“
Roussel war angekommen, bevor er eintraf. Er reist im Schneckenhaus seines ein für allemal festgelegten Weltbildes, auf Schneckenstraßen, die ihn zu dem führten, als den er sich selbst sehen wollte. Denn sein Reisedrang kannte eine absolute Grenze: Orte, an denen er in seiner Kindheit glücklich gewesen war, mied er. Nicht einmal mit dem Zug durchfahren mochte er sie. Schon die leichteste Berührung hätte sie zerfallen lassen wie eine besonders alte Mumie. Reiselandschaft der Reichen
Roussels Reisen führten durch eine mittlerweile untergegangene Landschaft. Sie liegt zwischen Cannes und Berlin, Venedig und Alexandria. In ihr sind die Monde voll und die Sonnenuntergänge glutig. Am Himmel fliegen Zeppeline und Propellerflugzeuge. In den Straßen parken bauchige Limousinen. Bevölkert wird die Reiselandschaft der Belle Epoque von viktorianischen Engländern und zaristischen Russen. Die einen sind aus geschäftlichen Motiven unterwegs, die anderen trainieren das Exil.
In den Hotelhallen wird der Schein gepflegt. Eine sterbende Zeit zelebriert sich selber. Der Portier taxiert die Kofferaufkleber des neuen Gastes. Keine großen Namen, aber viele: ein schlechtes Zeichen. Der Page, der den Koffer zum Lift schleppt, macht eine ähnliche Rechnung auf. Rekordfahrt im Sarg
Die Epoche geht zu Ende, als Roussel das Wohnmobil erfindet. Das Gefährt war schwarz und schmal wie ein Sarg, maß neun Meter in der Länge und zweieinhalb in der Breite. Untergebracht waren darin ein Salon mit Schrankbett und Heizung, ein kombiniertes Eß- und Wohnzimmer, ein Badezimmer mit Toilette und schließlich ein Aufenthalts- und Ruheraum für das dreiköpfige Personal. Während er sich von Paris nach Rom und zurück chauffieren ließ, saß Roussel hinter zugezogenen Vorhängen - und las: die fantastischen Reisebeschreibungen Jules Vernes vor allem, seines Lieblingsautors, der der Epoche eine ihrem Fortschrittswillen entsprechende Literaturgattung zugeschrieben hatte.
Im abgedunkelten Wohnmobil wurde Roussel zum Gefährten des Kapitän Nemo, der mit der Menschheit gebrochen hatte und seine Freiheit in der Abgeschiedenheit20.000 Meilen unter den Meeren suchte. Ein U-Boot wäre auch dem schüchternen Roussel angenehmer gewesen. In den Gesellschaftsnachrichten als Rekordfahrt verkauft, hatte Roussel als Etappenziele Audienzen beim Papst und Mussolini absolviert.
In seiner Dunkelkammer fährt Roussel seine reisesatte Epoche zu Grabe. Seinesgleichen hat die Welt erobert, die letzten Winkel sind erforscht und einheitlich eingerichtet, es gibt nichts Neues mehr zu erfahren. Nur eine Form der Fortbewegung erscheint noch möglich, die der ewigen Wiederkehr. In der rollenden Villa fährt Roussel, ohne seine Umgebung zu verändern, wie ehedem seine Mutter seinen Tod spazieren. Das Wohnmobil bringt einen persönlichen Autismus ebenso auf den Punkt, wie es vorausweist auf Reiseunterhaltungen, die in just jenen Jahren mit dem Massentourismus anheben. So genügte Roussel die automobile „Nautilus“ zum einmaligen Gebrauch. Er verkaufte sie und probierte eine andere Reiseweise aus.
Roussels Abdichtung gegen das Bestürzende am anderen, gegen alles Neue, nach dem er gleichwohl eine heftige Sehnsucht hatte, seine umstandslose Anverwandlung des Fremden, vor dem er sich fürchtet und das er zugleich herausfordert, machte ihn zum Prototyp des Pauschaltouristen. Der haltlos reisende Roussel ist ein Pionier im „Nicht-Gebiet der Schnelligkeit“, das Paul Virilio abgesteckt und zur zentralen Landschaft der Postmoderne erklärt hat. Der Zwangsneurotiker Roussel, der zeitlebens in psychiatrischer Behandlung war, ist der Gefährte einer von Virilio erwähnten Frau, die 1971 fünf Monate fast ohne Unterbrechung im Flugzeug verbrachte, um ihren Psychiatern zu entkommen. Reisen der Hirnschale
Obwohl seine Bücher Titel tragen wie Eindrücke aus Afrika, enthalten sie keine Schilderungen seiner diversen Reisen. Die Texte sind Reisen der Sprache, in denen es ihm gerade darauf ankam, der Wirklichkeit zu entkommen. Beim Schreiben wandte er eine Methode an, die darin bestand, eine möglichst anschauliche, erzählende oder beschreibende Verbindung zwischen zwei klangverwandten Worten oder Sätzen zu erfinden. Von der Rue de Rivoli in Paris war es in seiner Vorstellungswelt nur ein Zungenschlag bis zur Straße gleichen Namens auf Tahiti.
Als Vorlage für seine Wortspielereien und Anreger für Assoziationsketten fungiert, was von der Reise übrigbleibt: ein Opernglas in Anhängerform, die winzige Ansichtskarte in der gläsernen Kappe eines Kugelschreibers, der Briefkopf eines Hotel-Schreibbogens. Das Souvenir ist eine sichtbare Spur, die der Reisende aus der Fremde heimnimmt. Der Überrest von Orten, die gesucht, aber nie wirklich besucht werden können, weil sie die längste Zeit in der Einbildung bestehen. Der Fernwehnippes gehorcht dem infantilen Urimpuls der Verkleinerung: die Welt in die Tasche zu stecken. Ein Bedürfnis, das alle Reisende in unterschiedlicher Intensität quält. Der Kosmos des Reisenden Roussel hatte unter der Wölbung seiner Schädeldecke wie unter der Plastikkuppel einer Schneekugel Platz.
Uwe Ruprecht
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