Demokratie-Nachschlag in der Sowjetunion

In 275 Stimmbezirken gibt es am Sonntag die ersten Nachwahlen für die KandidatInnen zum Kongreß der Volksdeputierten, die im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit verfehlten / An der Basis werden Forderungen nach einem Sonderparteitag laut  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

In 275 sowjetischen Stimmbezirken geht der Wahlkampf auch nach den Wahlen weiter. Der zweite Wahlgang, der am kommenden Sonntag in 76 Wahlbezirken stattfindet, ist eine Folge des stümperhaften Wahlsystems - der dritte Wahlgang am 14.Mai in 199 Stimmbezirken ist dagegen durch die Unzufriedenheit der Bürger erzwungen worden.

Am morgigen Sonntag geht es um jene Wahlkreise, in denen die Bezirksversammlungen im Rausch der Demokratie eine zu große Zahl von Kandidaten nominierten. Niemand konnte hier die erforderliche Quote von 50 Prozent plus einer Stimme erringen, die zum Einstieg in den Kongreß der Volksdeputierten benötigt werden. So steht nun zum Beispiel im Moskauer Woroschilow-Bezirk dem Historiker Roi-Medwedjew die Atomphysikerin Xenija Rasumova gegenüber. Beide genießen in der Bevölkerung hohe Autorität: Medwedjew, weil er als führendes Mitglied der Gesellschaft „Memorial“ für eine öffentliche und genaue Analyse der stalinistischen Vergangenheit der UdSSR eintritt - Rasumova, weil sie als erste Vertreterin ihres Faches das Thema der Strahlenverseuchung der Sowjetunion zum Gegenstand des Wahlkampfes machte. Sie hat die permanente Veröffentlichung der Strahlenwerte von Lebensmitteln und die Erarbeitung einer Strahlungskarte des Staatsgebietes gefordert. Jeweils unter den beiden Spitzenkandidaten solcher Bezirke sollen sich die Sowjetbürger morgen in einer Stichwahl entscheiden. Betroffen sind von diesem Wahlgang besonders die Bürger der baltischen Republiken. Hier wurden im ersten Durchlauf ganze Wahllisten mit bis zu einem Dutzend der Volksfront-Stars beschickt, so daß eine so eindeutige Entscheidung von vornherein ausgeschlossen erschien.

Nicht gerade begeistert von den ihnen vorgesetzten Kandidaten waren die Wähler hingegen in jenen 199 Bezirken, in denen die Wiederholungswahl auf den 14.Mai fallen wird. Es sind dies Wahlkreise, in denen lediglich zwei Bewerber nominiert wurden und in denen keiner von beiden es schaffte, die erforderliche Stimmenmehrheit auf sich zu vereinen. Hier müssen diesmal neue Kandidaten her! Dazu zählen auch die Bezirke, in denen den Bürgern gar keine Wahl blieb, weil ihnen nur ein einziger Nomenklatura-Vertreter präsentiert wurde. Die so exklusiv Nominierten verfehlten ihren Weg in den Kongreß der Volksdeputierten, da die WählerInnen ihre Namen als Zeichen des Protestes ausgestrichen haben. Genau wie in diesen Fällen wurden Wiederholungswahlen mit neuen Kandidaten auch in den Teilen des Landes angesetzt, wo die Wahlbeteiligung unter der zulässigen Mindestgrenze lag. Dies ist zum Beispiel vielerorts in der Sowjetrepublik Armenien der Fall. In der Hauptstadt Eriwan lag die Wahlbeteiligung offiziellen Angaben zufolge - unter 50 Prozent. Hier haben die Einwohner offensichtlich ihrer Sorge und ihrem Protest Ausdruck verliehen, weil vier der Kandidaten, die dem Karabach-Komitee angehören, noch immer in Moskau in Haft sind.

Nicht selten wurden auf den Meetings vor dem 26.März auch Vorwürfe gegen Parteichef Gorbatschow laut, daß er den Reaktionären im ZK nicht entschieden genug entgegentrete und kein einziges Wort des Protestes gegen die Anti-Jelzin -Kommission des Politbüros eingelegt habe. Dennoch kann Gorbatschow das Resümee der Wahlen, an dem sich auch durch vereinzelte Nachwahlen nichts Wesentliches mehr ändern wird, als eindeutige Unterstützung seiner Perestroika-Politik werten, als Aufforderung zu ihrer Intensivierung und Beschleunigung. Als Votum gegen die Partei - wie vielerorts im Westen geschehen - kann die Entscheidung der Sowjetbürger kaum gewertet werden, aber als Unzufriedenheitserklärung mit den schlechten Führern an ihrer Spitze. Detailanalysen der Moskauer Ergebnisse zeigen, daß hier auch die Mehrheit der Parteimitglieder sich für Boris Jelzin entschied, im ganzen Land sind 80 Prozent der gewählten Kandidaten Parteimitglieder.

Gut informierte Kreise berichten, daß eine ganze Reihe lokaler Basisorganisationen der Partei angesichts der Wahlergebnisse einen außerplanmäßigen Sonderparteitag fordern. Auf der Tagesordnung soll die Entfernung der Breschnew-Garde aus dem ZK stehen, ebenso die Frage nach einem neuen Wahlgesetz und nach der Funktionsweise des Kongresses der Volksdeputierten, der Ende Mai aus seinen Reihen den neuen Obersten Sowjet wählen soll. Das Verfahren hierfür ist - wie sich jetzt zeigt - noch völlig ungeklärt.

Ob mit oder ohne Sonderparteitag - der erste Schritt der Sowjetbürger in die Demokratie wird auch für die innere Struktur in der Partei nicht ohne Folgen bleiben. Inzwischen rüsten sich wachsame Einwohner der von den Nachwahlen betroffenen Bezirke zu einer neuen „Beobachtungsrunde“. Ein weiteres Mal organisieren sie die Überwachung der Wahllokale, um Fälschungen zu verhindern. Die in der Vergangenheit vielfach Belogenen wollen sich nicht mehr betrügen lassen.