Sowjetisches Atom-U-Boot endgültig abgetaucht

■ Wahrscheinlich 60 Mann Besatzung tot / Experten uneins über mögliche Bedrohung der Umwelt durch Radioaktivität Informationspolitik der Sowjets transparenter als im Falle Tschernobyls / Unklarheiten aber über Art der Bewaffnung des U-Boots

Berlin (dpa/wps/taz) - Ein zweites Tschernobyl? Die Erinnerung an die Atomkatastrophe vor drei Jahren in der Sowjetunion bestimmte das Wochenende in Norwegen, während auf Nachrichten über den Unfall im Nordmeer vor der norwegischen Küste gewartet wurde. Zwar bemühten sich in Oslo Regierungsvertreter und Wissenschaftler der zuständigen staatlichen Behörden, nach dem Sinken des atomgetriebenen sowjetischen U-Bootes die Gefahr radioaktiver Verseuchung als minimal darzustellen, doch die Ungewißheit und Angst bei den Menschen an der norwegischen Nordküste dauert an. Erst gestern konnte das Strahlenschutzinstitut vorläufige Meßergebnisse vorlegen, denen zufolge bisher keine Radioaktivität aus dem U-Boot ausgetreten ist.

Wenn die Besatzung das U-Boot tatsächlich geflutet hat, dann können auf dem Meeresgrund keine großen Bootszellen mehr geborsten sein. Da kein Licht in die Tiefe dringt, die Wassertemperatur knapp über Null Grad liegt und der Sauerstoffgehalt gering ist, fallen maßgebliche Kräfte für eine schnelle Verrottung von Metall fort. Der US-Vize -Admiral Carter sagte, die Reaktoren seien von korrosionsfestem Material umgeben, das in Seewasser nur einen Millimeterbruchteil innerhalb von tausend Jahren verliere. Für völlige Beruhigung dürften diese Messungen aber wohl kaum sorgen. Bente Aasjord vom norwegischen Naturschutzbund wies auf die Langzeitgefahren hin, die das U -Boot-Wrack birgt: „Früher oder später werden die Behälter des Plutoniums bei dem Druck in 2.000 Meter Tiefe leckschlagen.“ Und auch aus dem staatlichen Strahlenschutzamt in Oslo war am Wochenende zu hören, man werde über Bergungsmöglichkeiten der gefährlichen Schiffsreste nachdenken müssen. Vergleiche mit der Tschernobyl-Katastrophe wurden in Oslo aber auch in bezug auf die sowjetische Informationspolitik gezogen. Nach dem Durchschmelzen des Reaktorkerns hatte es 1986 drei Tage gedauert, ehe aus Moskau die erste offizielle Bestätigung des Unglücks kam. Diesmal warteten die sowjetischen Stellen immerhin nur 24 Stunden ab, bis sie erste Informationen publizierten.

Brandursache noch unklar

Doch auch zweieinhalb Tage nach dem Unglück hält der Kreml noch Einzelheiten über die Zahl der Toten und Bewaffnung des Schiffes zurück. In einem Telegramm an Norwegens Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland erklärte Gorbatschow, das atomgetriebene U-Boot sei mit Torpedos bewaffnet gewesen. Das norwegische Rüstungsministerium vermutet allerdings, daß das U-Boot für den Einsatz sowohl konventioneller als auch atomarer Torpedos und Cruise Missiles mit atomaren Sprengköpfen ausgerüstet war. Die norwegischen Experten gehen davon aus, daß das U-Boot unter Wasser in Brand geraten sei. Nach dem Auftauchen habe das Feuer von einer Kammer auf andere übergegriffen. Danach sei es explodiert und habe Schlagseite bekommen. Zweifel bestehen daüber, ob das Boot beim Aufprall auf den Meeresgrund auseinandergebrochen sei. Berichten des norwegischen Fernsehens vom Samstag abend zufolge sind wahrscheinlich über 60 der vermuteten 95 Besatzungsmitglieder ums Leben gekommen. Ein norwegisches Spionageflugzeug, das über dem Unglücksort kreiste, nachdem das U-Boot gesunken war, will außer einem Rettungsfloß mit 20 bis 25 Überlebenden nichts entdeckt haben. Ob sie angesichts einer Wassertemperatur nahe dem Gefrierpunkt alle überlebt haben, ist unklar.

Atomreaktoren

auf dem Meeresgrund

Von den beiden Atomreaktoren des sowjetischen U-Boots ist nach Meinung des Karlsruher Kernphysikers Lothar König „kein rascher Radioaktivitätsaustritt“ zu erwarten. König, der die Abteilung Radioökologie im Kernforschungszentrum Karlsruhe leitet, begründete diese Einschätzung mit Untersuchungen zur Strahlung von versenktem Atommüll und Messungen, die in den siebziger Jahren an gesunkenen amerikanischen Atom-U-Booten vorgenommen wurden. Analog zur Bauweise sowjetischer atomar angetriebener Eisbrecher vermutet König in dem U-Boot Druckwasserreaktoren mit einem Betriebsdruck von 90 Atmosphären. Das entspreche dem Druck, wie er in 900 Meter Meerestiefe herrscht. Es könne aber angenommen werden, daß die Reaktoren „für einen wesentlich höheren Druck ausgelegt“ seien. Deshalb, so vermuten auch andere Experten, bestehe keine Gefahr, daß die Reaktoren unter dem Wasserdruck in den mindestens 1.500 Metern Tiefe bersten und Radioaktivität freigeben könnten. Unklar ist allerdings, ob die Reaktoren ein völlig in sich geschlossenes System darstellen, für welchen maximalen Druck sie wirklich ausgelegt sind, und ob Seewasser eindringen kann. Gorbatschow hält es für ausgeschlossen, daß der Brand auf dem U-Boot zu radioaktiver Verseuchung führen kann. In seinem Telegramm an Brundtland erklärte er, die Reaktoren seien gestoppt worden. Deshalb sei nach Meinung sowjetischer Experten die Möglichkeit einer kerntechnischen Explosion und radioaktiver Verseuchung der Umwelt ausgeschlossen.

Die Leiterin des norwegischen Krisenstabes, Anne Alvik, wollte aber ein Entweichen von Radioaktivität als Folge einer Kernschmelze in den beiden Atomreaktoren des U-Bootes nicht ausschließen. Nach Angaben der Umweltschutzorganisation Greenpeace hat sich mit dem jetzt gesunkenen sowjetischen U-Boot die Zahl der auf dem Meeresboden liegenden Atom-U-Boote auf sechs erhöht: Vier russische und zwei amerikanische. Es gebe bislang keine gesicherten Angaben darüber, wie sich freiwerdende Radioaktivität im Meer ausbreite. Über die Fischbestände könne eine mögliche Strahlung leicht in die Nahrungskette gelangen, sagte der britische Greenpeace-Sprecher Damian Durrant am Samstag in London.

Ein U-Boot mit dem Codenamen „Mike“

Weltweit sind nach Angaben des Londoner Instituts für Strategische Studien (IISS) vom Samstag 350 atomgetriebene U -Boote unterwegs. Davon gehören 190 zur sowjetischen Marine, 131 zur US-Navy, zehn zu den französischen und 20 zu den britischen Seestreitkräften. Das gesunkene U-Boot gehört dem britischen Handbuch Jane's Fighting Ships zufolge zur modernsten Klasse mit dem westlichen Codenamen „Mike“ und hat gewöhnlich 95 Besatzungsmitglieder. Sollte dies zutreffen, wäre das Boot 1983 vom Stapel gelaufen und könnte auch mit 16 SS-NX-21-Langstreckenraketen bestückt werden. Seine Aufgabe ist es, feindliche U-Boote zu jagen und zu zerstören.

Die Unglücksstelle befindet sich an der Grenze zwischen dem Norwegischen Meer und und der Barents-See, einer strategisch wichtigen Stelle, weil mehr als 70 Prozent aller sowjetischen Atom-U-Boote auf ihrem Weg aus den Basen hinter der Kola-Halbinsel in die Weltmeere hier vorbei müssen. Beobachtungs- und Jagdschiffe der Nato lauern dort den sowjetischen U-Booten auf, um sie über die Weltmeere zu verfolgen und so über ihren Einsatzort jederzeit Bescheid zu wissen.

mf