SCHIFFE VERSENKEN

■ Musikalische Opfer im Statthaus Böcklerpark

Wir schreiben das Jahr 1747, es ist ein sonniger Sommertag, zu schön um in der Wohnung zu komponieren, also greift sich Johann Sebastian Bach sein Cembalo und schiebt ab an den Urbanhafen. Hier läßt es sich trefflich Notationen niederschreiben, vor ihm die schwitzenden Hafenarbeiter, die schwere Kornsäcke aus tiefen Schiffsbäuchen herausschleppen. Bach inspiriert das ungemein, die Arbeiter machen ihre Sprüche, er solle doch auch mal mit anpacken, mit seinen Klavierfingern. Bach winkt dankend ab, er habe genug zu tun, sich mit der ewigen Komponiererei herumzuschlagen, jeden Tag eine Sonate, nur um sich einigermaßen über Wasser zu halten. Aber er widme ihnen gern das aktuelle Werk, so verfällt er auf den Titel „Musikalisches Opfer“ und verabschiedet sich mit einem fröhlichen Largo-Allegro-Andante-Allegro.

Knappe 250 Jahre später. Der Hafen ist verschwunden, das Wasser wird nun eingerahmt von einem kleinen Park, einem potthäßlichen Betonkrankenhaus und einem kleinen „Statthaus“ am gegenüberliegenden Ufer. In einer mit Papiergirlanden noch vom Fasching geschmückten Aula machen sich vier junge Musiker mit Barockinstrumenten daran, dem „Opfer“ und seinen modernen Nachfolgern aufzulauern.

Die meisten Konzertsäle sind hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt, hier im Statthaus dagegen, kann man nach draußen schauen, den langsam rötlicher werdenden Abendhimmel bestaunen, man hört die Musik, aber befindet sich in Gedanken weit entfernt. Der Ernst der Darbietung, die ruhige Gelassenheit dieser Klänge, alles harmoniert miteinander, ohne die so oft bemühte Künstlichkeit der Atmosphäre zu erzeugen. Auch wenn man sonst fast nie Klassik hört, hier wird sie einem zuckersüß eingetrichtert.

Hinter dem Zauber steckt natürlich wieder einmal ein ausgeklügeltes Konzept der „Freunde Guter Musik“ als Veranstalter. Der Flötist Christian von Borries, der auch für die Konzeption verantwortlich zeichnet, hat eine Zeitreise durch die moderne Musik entworfen. Wurde das Bachsche „Opfer“ rein akustisch dargebracht, so werden die Barockinstrumente nun verstärkt wiedergegeben, was einen „modernen“ Klangeindruck schaffen soll. So will man sich über Steve Reich, Terry Riley und Rzewski bis Lage vorkämpfen.

Das Cembalo wird zum Computerersatz, sein Ton klingt plötzlich fast synthetisch, bei Steve Reichs „Reed Phase“ von 1963 wird ständig nur ein und derselbe Ton angeschlagen. Der Krampf im Finger wird zum konstitutiven Element. Die Wiederholung des ewig Gleichen, die Faszination der Monotonie der immer gleichen Handlung. Jeden Morgen Kaffee, immer das gleiche Geräusch von der Straße, der Lärm landender Flugzeuge, jeden Abend die Tagesschau. Das Leben als Serie, dienstags Dallas, und es wird schlagartig klar: wieder eine Woche vertan, aber das macht nichts, weil auch die Serienhelden in dieser Zeit nichts unternehmen konnten.

In Frederic Rzewskis „Coming Together“ (1972) wird die musikalische Monotonie noch verstärkt durch den Einsatz eines Sprechers, der den ewig gleichen englischen Text rezensiert. Er redet sich immer mehr in Wallungen, wirft den Kopf wie ein Hahn in die Runde, es nützt nichts, der Text bleibt der gleiche: „The speed of the passing time...“ Keine Veränderung der Musik, und doch verändern sich Nuancen im Klang, kein Mensch kann immer exakt den gleichen Ton wiederholen. Bei Computermusik würde sofort die Spannung fehlen, die Monotonie würde zur Langeweile. Hier dagegen wird die Monotonie zum reizüberquellenden Reservoir des Neuen.

Draußen hat sich der Himmel verdunkelt, übrig bliebt eine hell leuchtende Mondsichel, die sich im verdreckten Hafenwasser spiegelt. Als letzte Station der Moderne „Radio Music“ von John Cage, für maximal acht Radiospieler, die sechs Minuten lang, jeder mit einem Radio bewaffnet, in einer anderen Ecke des Raumes durch die Wellen äthern dürfen. Sie kurbeln allerdings nicht völlig frei an den Frequenzen, sondern nach einem von Reich 1956 ausgeklügelten Plan. Es entsteht ein Musik-, Hörspiel-, Nachrichten -Rauschsalat wie beim nächtlichen verzweifelten Suchen nach guter Musik im Radio. Ein DDR-Sachse berichtet über ein Fahrradrennen rund um die Braunkohle, plötzlich ein russische Stimme von hinten, ein deutscher Schlager, Katastrophen, Tote, gesunkene Atom-U-Boote und irgendwo dazwischen ein Hungerstreit der RAF. Medienzynismus live als lebendige Geräuschkulisse.

Für dies Konzert braucht es keine Instrumente, nur ein paar alte Radios. Ob das gesamte Konzertprogramm von Bach bis Reich durch den Radio-Schachzug wie im Programm behauptet, „dekonstruiert“ und historisch relativiert wurde, weiß ich nicht. Auf jeden Fall dürfte der alte Bach sich im Grabe umdrehen, mit solcher „Musik“ in Verbindnung gebracht zu werden (wieso? sezza), und das macht vielleicht gerade den Reiz eines solchen Konzertes aus. Es schafft interessante Verknüpfungen.

Auf dem Rückweg am Ufer des Urbanhafens sieht man Bach schemenhaft durch die Dunkelheit huschen, er schiebt sein Cembalo durchs Gras und freut sich verschmitzt über sein musikalisches Opfer. Ein gelungener Abend.

Andreas Becker