„Grundregeln der Kultur des politischen Streites“ studiert

■ Zum Streit zwischen SPD und SED und wie er in den unabhängigen Gruppen diskutiert wird / Mitte April exklusive Begegnungen zwischen SPD- und SED-Ideologen / Schlagabtausch via Fernsehen / Hoffnung und Kritik am SPD/SED-Papier in Gruppen

Unmittelbar bevor steht wieder eine exklusive Begegnung. Hochrangige SPD- und SED-Ideologen wollen vom 13. bis 15. April ein brisantes Thema diskutieren: Wie steht es in West und Ost um die Menschenrechte? Im Vorfeld des Treffens kam es zu einem leichten Schlagabtausch. Als erstes holte die SPD aus und bilanzierte kritisch die Zeit seit der Veröffentlichung (August 1987) des gemeinsamen Dokuments „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Erhard Eppler beklagte im ZDF-Magazin „Kennzeichen D“ den fehlenden Dialog der SED mit der Gesellschaft, was gegen Sinn und Wort des „Dokuments“ verstoße. Prompt reagierte ZK -Mitglied Otto Reinhold, Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, im DDR-Fernsehen. Sicheres Zeichen, daß ein wunder Punkt berührt war. Hatte Eppler jedoch noch für die Bundesrepublik fehlende Antworten auf östliche Abrüstungsinitiativen angemahnt, brachte Reinhold nicht die Spur selbstkritischen Denkens zustande. Nicht die mangelnde Diskussion mit den Bürgern sei gemeint, sondern das Verhalten der Behörden gegenüber einigen Gruppen. Gruppen in der DDR, die (nach SED-Verständnis von CIA und Kreml ferngesteuert) nichts weiteres im Sinn hätten als gegen Gesetze zu verstoßen und „Landesverrat“ zu begehen (so formuliert in der parteiinternen Information Nr. 243 vom Februar 1988). DDR-Professor Reißig, einer der Mitautoren des „Dokuments“ hatte bei einer Podiumsdiskussion in der BRD noch kurz zuvor gesagt, in einen Dialog würden alle Gruppen einbezogen und keiner werde ausgeschlossen.

Wie wird in den unabhängigen Gruppen, mit denen sich die DDR so schwertut, der SED/SPD-Dialog gesehen? In Heft 2 der Samisdat-Zeitschrift 'Kontext‘ stellt der Ost-Berliner Theologe Joachim Garstecki fest, daß im „Dokument“ Auffassung und Positionen bestätigt werden, die in der Evangelischen Kirche seit 1982 auf Synoden, Friedensseminaren und Gemeindeveranstaltungen vorgetragen wurden und gegen die es damals starken ideologischen Widerstand gab. Gleichzeitig hofft Garstecki, daß Folgerungen aus dem „Dokument“ im gesellschaftlichen Leben spürbar werden mögen, „etwa in Bezug auf die Lern- und Reformfähigkeit des Sozialismus oder auf eine offene Diskussion seiner Vorzüge und Nachteile“. „Öffnungen nach innen und Abbau von Abgrenzungen nach außen sind zwei Seiten desselben Prozesses“, schreibt Garstecki und zitiert einen Beschluß der Bundessynode in Görlitz, in dem es heißt, daß der Dialog mit Andersdenkenden für die DDR eine Chance sei. Auf dieses 'Kontext'-Heft reagierten die Behörden auf ihre Weise: Gegen die beiden Herausgeber wurden Ordnungsstrafverfahren eingeleitet.

In Heft 4 der „Kontext„-Reihe ordnet einer der Redakteure dieser Zeitschrift, Benn Roolf, das „Dokument“ in die innere Klimaverschlechterung der DDR ein. Hatten die Kirchen und die verschiedenen Gruppen beim Olof-Palme-Friedensmarsch im September 1987 noch ihre unzensierten Plakate öffentlich zeigen können, änderte sich nach dem Honecker-Besuch in der BRD die Lage. Die nächtliche Beschlagnahmeaktion und die Festnahmen in der Ostberliner Umweltbibliothek, die Verhaftung und Abschiebung von Oppositionellen im Januar 1988, die fortlaufende Zensur der Kirchenzeitungen, die Ordnungsstrafen gegen Herausgeber von Samisdat-Zeitschriften sowie das Verbot sowjetischer Filme und Presseerzeugnisse brachten laut Roolf „Enttäuschungen über die offensichtliche Reformunwilligkeit der SED-Führung“. Vestummt seien heute diejenigen Stimmen, die im September 1987 voll des Lobes für das gemeinsame „Dokument“ waren. Zum Alleinvertretungsanspruch der SED für alle gesellschaftlichen Fragen schreibt Roolf: „Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Kultur- und Informationsaustausch, gemeinsame Forschung, Städtepartnerschaften, Ausweitung des Ost-West-Reiseverkehrs gehen einher mit dem Abbau von Abgrenzungen und Feindbildern. Dialog und Cooperation ... sind außen- und innenpolitisch relevant, d.h. sie können eben nicht mehr nur von staatlichen Außenvertretungsstellen, sondern in steigendem Maße nur noch von 'inner' -gesellschaftlichen Kräften geleistet werden. Friedensinitiativen 'von unten‘, so unzulänglich sie auch sein mögen, gewinnen hieraus ihre politische Legitimation.“ Da die DDR zwar außenpolitisch einen Dialog wolle, nach innen aber immer wieder zu polizeistaatlichen Methoden gegriffen wird, sei die SED gar nicht in der Lage, zu praktizieren, was sie im „Dokument“ versprochen habe. Die Trennung des äußeren vom inneren Dialog müsse beendet werden. An die SPD gerichtet merkt Roolf an, daß das „Dokument“ nur dann mit Leben erfüllt werden könne, wenn die Gespräche zwischen Ost und West sich nicht wie bisher vor allem auf wenige Politiker beschränke, sondern auch die Bürger, die Gesellschaft, miteinbeziehen würde. Roolf kritisierte grundsätzlich das etatistische Politikverständnis der SPD. Eppler verknüpfte Staat und Ideologie als statische Größen. Gewaltenteilung, Diskussionen über ein Mehrparteiensystem, über die veränderte Rolle der marxistisch-leninistischen Parteien.

„Meinungspluralismus“ und andere Reformansätze gingen aber weit über Epplers Überlegungen hinaus. Am Ende resümmierte Roolf, daß die Rezeption des „Dokuments“ seine Widersprüchlichkeiten deutlich macht. Jeder liest heraus, was ihm passe, die SED, die SPD und auch die sogenannten „einfachen“ Menschen in der DDR. Die letzteren seien es gewesen, welche „die Grundregeln einer Kultur des politischen Streits“ am eifrigsten studierten. Deshalb habe das SPD/SED-Dokument dazu beigetragen, das politische Bewußtsein der DDR-Bürger zu sensibilisieren. Ob Otto Reinhold und Genossen das berücksichtigen können, ist noch ungewiß. Auf die Ergebnisse des nächstens Treffens der „Grundwertkommissionen“ von SPD und SED zum Thema „Menschenrechte“ darf man gespannt sein.

Rüdiger Rosenthal