ÜBER FOTOGRAFIE

 ■  Zum Erinnern: American Kids

Nicholas Nixon, Troy, New York, 1978. Eine Kleinstadt in Amerika. Man sitzt auf den Stufen zur Straße hin, es ist Sommer, man sieht den schleichenden Limousinen nach, hinter deren verdunkelten Scheiben im kühlen Hauch der Klimaanlage die Nachbarn sitzen, die man mit Namen nicht kennt. Ein Kind, vier kids (teenager ist aus der Mode gekommen), die im häuslichen Bereich herumlungern, ihre Straße ist ihre Bühne. Ein Tag geht zu Ende und die Siebziger Jahre. Präsident Jimmy Carter. Amerika ist dabei, ein Land unter anderen zu werden. Die Computer sind im Kommen und die Japaner. In den Metropolen des Westens kommt der Punk, kommen Röhrenjeans und Wohnraumrandale.

Davon ist hier noch nichts zu spüren. Es ist eine Zeit des Wartens. Man trägt weite Baumwollsachen und als Junge die Haare über die Ohren (- die Mütter haben sich daran gewöhnt). Die Jeans sind unten weit, werden zu lang gekauft und umgeschlagen, um die Glockenform zu stärken. Das Mädchen hat von ihren Jeans die Hosenbeine abgeschnitten und die Ränder nicht vernäht; die Innentaschen lugen heraus, der Knopf ist offen oder fehlt. Sorgfältiger ist das Hemd gewählt, das ihre schon ganz deutlichen, aber vielleicht noch nicht ausgewachsenen Brüste fest umschließt. Weil sie sich vor Blicken nicht gut zu schützen weiß, schützt sie ihren Blick mit den quirlenden vollen Haaren, täglich gewaschen und geföhnt. Den Fremden, der sich der Gruppe im Vorbeigehen von der Seite - für sie fast von hinten genähert hat, hat sie gleich bemerkt. Diese befangene Aufmerksamkeit und der drastische Anschnitt sichern ihr im Bild eine Schlüsselrolle.

Die Jungen, entspannt, fast träge, prägen mehrheitlich das soziale Klima der Gruppe (nach innen). Der schlanke Junge links im Bild, er könnte wohl ein Bruder des Mädchens sein, verkörpert die Festigkeit des Athleten. Es ist nicht auszuschließen, daß er den Passanten absichtlich übersieht. Der dickliche Junge, sitzend, ist schon irritiert. Er ist jemand, über den man in der Schule schon mal Witze macht, nicht nur wegen seiner Woolworth-Klamotten. Der Junge rechts von ihm, der mit Sicherheit nicht zur Familie der Sommersprossler gehört, scheint wirklich abwesend zu sein. So sehen ihn in der Schule oft die Mädchen, und vielleicht auch ein paar Jungen träumen von seinem vollen Mund.

Das Mädchen öffnet das Bild, der Junge mit dem vollen Mund trägt es, und die weiße Bogenkonstruktion seines Sweatshirt -Mittelteils trägt, verstärkt über die schwarze Borte, die Massigkeit seines Boxerkopfes. Das Kind im Vordergrund markiert die Bühnenseite und bewahrt den Betrachter davor, sich in die Gruppe zu wünschen. Dem Jungen links leiht es das Motiv des nackten Oberkörpers, der somit nicht nur athletisch erscheint (in seiner Festigkeit), sondern auch kindlich (durch die Tatsache, daß er nackt ist).

Das Bild schließt sich über die Materialien: Holz, Stoff, Haut. Die Gegenwart der Augen wird etwas zurückgenommen über das Glänzen des Fensterglases im Hintergrund. Mit einem stark streuenden Blitzlicht hat der Fotograf die modellierende Kraft des Tageslichts verscheucht. Die Gruppe erscheint, schon durch die Diagonalkonstruktion des Bildes, plastisch, aber die Materialien schließen sich gleichsam in der Oberfläche der Fotografie kurz.

So ist das Licht zwar teils artifiziell und dennoch oder deshalb so suggestiv. Was erwartet man schon groß, in einer Wohnstraße, im Sommer '78, in Troy? Der Fotograf erkennt das Energiefeld und zögert nicht. Eine halbe Sekunde später, übrigens, wäre es zu spät. Das Bild, das in der Erinnerung bleibt, ist da, kurz bevor man selbst darein eintritt.

Ulf Erdmann Ziegler

Nicolas Nixon, Troy, New Xork, 1978. Aus American Images, McGraw-Hill Book Company, N.Y., 1979