HongKong Seidenrollen-Malerei

■ Bildrollen des chinesischen Malprofessors Liu Kuo-sung zeigt das Übersee-Museum Vom ethnologischen Blick und den Assoziationsketten des Westeuropäers

Über das Betrachten von Bildern auf chinesische Art

Wir haben Zeit. Wir haben Ruhe. Wir nehmen aus dem Schrank eine Bildrolle von Liu Kuo-sung, sagen wir die acht Meter lange Rolle „Vier Jahreszeiten“. Wir setzen uns bequem an einen Tisch, ein wenig Musik, ein Glas Wein, gutes Licht. Wir gehen auf eine Reise.

Wir lesen das Bild von rechts nach links, betrachten immer einen Teil, das Gelesene rollt sich auf, der nächste Ausschnitt wird entrollt. Wir durchstreifen eine Landschaft, ruhen uns aus, bewe

gen uns langsam, wie absichtslos. Werden Teil der Landschaft. Am Ende einer meditativen Reise fühlen wir uns erfrischt und bereichert.

Zen und die Kunst,

Zweige zu malen

In der traditionellen chinesischen Malerei bedeutet das Herstellen eines Bildes bereits einen meditativen Akt. Dabei bevorzugt die Kalligraphie von alters her als Gegenstand und Medium die Landschaft. Auf ausgesuchten Untergründen aus Seide und selbst hergestellten Papieren ent

stehen filigrane Kompositionen aus Felsen, Wasserfällen, Bäumen bis ins feinste Geäst, aus Regenhimmeln und Flußufern und Blüten und Blättern. Ein Ast kann das Ergebnis langer Meditationen sein.

Über die Schwierigkeit,

Bilder des Herrn Liu

'westlich auszustellen

Vom 9. bis 30. April 1989 ist im Übersee-Museum Bremen eine Sonderausstellung mit Bildern des chinesischen Malers Liu Kuo-sung aus Hongkong zu sehen. Ausgehend von der traditionellen

chinesischen Landsschaftskal ligraphie versucht Liu, westliche Maltechnik und Materialien aufzunehmen und zu nutzen. Spuren von Surrealismus, Pointillismus und moderner Sprühtechniken lassen sich entdecken. Der 1932 in der Volksrepublik geborene Kunstprofessor bedient sich bei der Präsentation der Bilder einer zur Zeit der Kulturrevolution heftig bekämpften Technik: des Aufziehens auf Seidenrollen. Chinesische Bildrollen hatten ursprünglich nicht einen festen Platz an der Wand, sondern sie wurden zu besonderen, etwa fest

lichen Gelegenheiten hervorgeholt und aufgerollt.

Solcher Funktionen entkleidet, hängen Professor Lius Bildrollen im Ausstellungssaal des Überseemuseums unglücklich; selbst die riesige „Vier Jahreszeiten„-Rolle ist nicht erfahrbar, wie es oben geträumt wurde, sondern sieht sich im besten Fall einem ethnologischen Blick ausgesetzt. Oder warum stellen sich so ärgerliche Assoziationen ein wie der letzte Apothekenkalender oder das letzte reichliche Essen beim Chinamann? Burkhard Straßman