TANZ, STRUMPFHOSENBEIN, TANZ!

■ Büchners „Leonce und Lena“ in der Freien Volksbühne

Nie wieder Heilige ohne Schutz! Zumindest spielt man offenbar heutzutage nicht mehr ohne: Während Neuenfels‘ Antonius & Cleopatra unter der Schirmherrschaft von Heiner „kein Knüller ohne“ Müller sich bühnenkünstlerisch die Hand reichen durften, macht Thomas „ohne“ Brasch „wär's lasch“ den Wachmann über die Ehre von Christof Nels Leonce & Lena „künstlerische Mitarbeit“ resp. „künstlerische Beratung“ heißt das, und bedeutet, daß die entsprechenden Schutzheiligen z.B. ein Gedicht mit Widmung an den Regisseur ablassen, und zwar im Programmheft hinten, bei gleichzeitiger eindrucksvoller Verlängerung der Stabsliste im Programmheft vorne. Und diesmal gibt's sogar noch ein Schmankerl extra - quasi als Nachtisch auf der Besetzungskarte: die Sonder-Übersättigungsbeilage zur Dramaturgie bildete die Femo-Germanistin Marianne Schuller in der Rolle einer Wissenschaftlichen Mitarbeiterin. Die hat ebenfalls ins Programmheft einen schönen Aufsatz hineingeschrieben mit abschließendem Akademischem Rat, der dann allerdings dummerweise auf der Bühne alsbald in die Tat umgeschlagen ist: „Wo beginnt eine Kunst, ein Theater, das nicht über Bedeutung fesselt. 'IMMER‘, sondern die Fesseln der Bedeutung löst? (...) Jedenfalls spielt das Lustspiel 'Leonce und Lena‘ auf doppeltem Boden und mit dem unsäglichen Raum, der sich dazwischen auftut. (...) Nicht dem Text Büchners eine neue Bedeutung geben, sondern den vielfältigen Raum der Bedeutungsgebung aufzutun, das ist ein Weg, 'Leonce und Lena‘ zu inszenieren.“

Und da haben die vielen Köche den Salat anbrennen lassen. Denn Theater nach Rezept funktioniert nun mal nicht: Wie im Sonderangebot werden die Wörter verschleudert, so wird die Büchnersche Poesie zur hohlen Phrase. - IMMER - ein Trademark wie ESPRIT, den man bekanntlich umsoweniger hat, je größer der Schriftzug auf den Edelklammotten steht verspricht als schickes bauklötzeschriftzügiges Bühnenbild das der Plattheit auch in 3 D nicht entgeht - Theaterkunst von hohem Ewigkeitswert inklusive akuter Bedeutungsschwangerschaft im Erlebnisraum 'Wort‘, der im zweiten Teil eine Drehbühne mit doppeltem Boden (Ha, Ha) wird. Dortselbst, also im vielfältigen Bühnenraum der Bedeutungsgebung wahnwimmelt ambitioniert ein Ensemble von verhinderten Grotowski-Stanislawski-Jaruselski-Kieslowski -Langlaufski-Radetski-Body-Workern ganz bewußt und total intensiv im aparten Black & White als Hofgesellschaft zwischen den Buchstaben entlang, hinter denen wir selbstverständlich immer den Menschen sehen. Jedoch:

Hier sehn wir Hühner, die im Vagen,

Gackernd mit den Flügeln schlagen.

Gruppenbilder mit und ohne tänzelnde Choreographie, Modemädchen mal im Wollweiß-Look aus Romeo & Julia (Nels letzter Inszenierung an der Volksbühne), mal in bunten Strumpfhosenbeinen, auf die mein Ehrgeiz ginge, wenn ich ein Narr wäre, Shakespeare hieße und Euch das auch noch gefallen würde, aber wie! Gleich viermal Rosetta, die Gespielin von Leonce, weil: eine ist keine. Aber: muß man denn immer alles viermal sagen! „Du und Deine Langeweile ihr seid eins.“ (Oder: Witz - zwo, drei, vier) Dafür darf Leonce an den Schuhen dieser multiplen stampfenden Hyänen riechen, der kleine Fetischist - so, jetzt wissen wir's. Und fürchtet sich wahrscheinlich so sehr vor den Frauenprototypen der Marke 'Rosetta‘. Ach deshalb muß der vor Lena fliehen. Und so weiter und so nichts wie fort! Fünfundzwanzig Seiten in der dtv-Ausgabe drei Stunden in der Volksbühnenversion. Büchner, eingelegt in Yuppies längsten Long Drink aufgedunsen, aufgelöst in klebrige Einzelteile, wortamputiert, fantasyangereichert, sentimentalmusikalisch trompetenunterlegt. Erzählt wird nichts. Hauptsache ambitioniert. Vivat! Wie? Wat?

Gabriele Riedle

Regie: Chistof Nel; Bühnenbild: Michael Simon; Kostüme: Ulla Gothe; Musik: Lars Rudolph; Licht: Heinrich Brunke; Dramatrugie: Christoph Rüter; Künstlerische Mitarbeit: Thomas Brasch; Wissenschaftliche Mitarbeit: Marianne Schuller; Assistenten u. Hospitanten: neun.

König Peter: Ulrich Kuhlmann; Leonce: Ingo Hülsmann; Lena: Emanuela von Frankenberg; Valerio: Robert Hunger-Bühler; Gouvernante: Christiane Bruhn; Rosetta: Henriette Cejpek, Lilian Naef, Uta Prelle, Doina Weber.