„Das Robben-Virus ist nicht vom Himmel gefallen“

Das Sterben der Seehunde im Wattenmeer geht auch in diesem Jahr weiter / Das Seehundstaupe-Virus ist als Erreger der Epidemie identifiziert, doch die vergiftete Nordsee bleibt wichtigste Ursache der Seuche / Kaum Chancen für Therapie und Impfung  ■  Von Manfred Kriener

Berlin (taz) - Die Robben-Epidemie im Wattenmeer ist nicht zur Ruhe gekommen und wird vermutlich auch in diesem Jahr die Zahl der Seehunde weiter dezimieren. Diese düstere Prognose stellte der Kieler Biologe Günter Heidemann gestern in einem Gespräch mit der taz. Allein im März hat Heidemann in Schleswig-Holstein 20 tote Seehunde registriert. Auch während des gesamten Winters sei zwar das Interesse der Medien, aber leider nicht die grassierende Epidemie zurückgegangen. Heidemann: „Eine Unterbrechung des Seehundsterbens hat es nie gegeben.“

Bis zum Ende des vergangenen Jahres sind allein in Schleswig-Holstein 5.800 tote Seehunde eingesammelt worden. Insgesamt beziffert Heidemann die Zahl der bisher verendeten Tiere für das Wattenmeer (einschließlich Niederlande und Niedersachsen) auf 8.000. Damit wären mehr als zwei Drittel des Seehund-Bestandes, der auf 10.000 bis 11.000 Exemplare geschätzt wird, der Seuche zum Opfer gefallen. Bei der letzten Zählung Ende Februar dieses Jahres waren in Schleswig-Holstein noch 900 Seehunde auf den Sandbänken beobachtet worden.

Antikörper charakterisiert

Als weitgehend gesichert gilt, daß ein Erreger der Morbilli -Viren, das sogenannte Seehundstaupe-Virus für die Epidemie mitverantwortlich ist. Zu derselben Viren-Familie gehört auch das Hundestaupen- oder das Rinderpest-Virus sowie das „menschliche“ Masern-Virus. Inzwischen ist es gelungen, den Erreger bei Seehunden zu isolieren, ihn anzuzüchten und auf Zellen zu vermehren. Auch Antikörper gegen den Erreger sind charakterisiert worden. Die Forscher versuchen jetzt, das Virus im unmittelbar geschädigten Gewebe von toten Tieren nachzuweisen.

Trotz dieses eindeutigen Befundes warnen die Wissenschaftler aber davor, die Epidemie allein auf dieses Virus zu reduzieren. Der Berliner Veterinärpathologe Ernst, Mitglied einer Arbeitsgruppe an der FU, die an der Erforschung des Virus arbeitet: „Man macht es sich zu einfach, wenn man glaubt, daß hier ein Virus vom Himmel gefallen ist und den Tod der Seehunde verursacht hat.“ Die Berliner Arbeitsgruppe ist mit allen Forschergruppen der Meinung, daß hier ein „mehrfaktorielles Geschehen“ vorliegt und daß vor allem das schwer angeschlagene Ökosystem Nordsee ein wesentlicher Grund für die Seuche ist. Die Folgen von toxischen Belastungen auf die Tiere, die Auswirkungen vor allem von Schwermetallen und Kohlenwasserstoffen auf das Immunsystem der Tiere müsse verstärkt untersucht werden.

Was kann gegen die Seuche unternommen werden? Hier sind die Forscher und Biologen weitgehend ratlos. Obwohl es niederländischen Veterinären gelungen ist, Seehunde in Gefangenschaft mit Medikamenten zu behandeln, die man aus der Therapie der Hundestaupe kennt, sieht man für die Wildpopulation der Seehunde wenig Chancen. Auch die Impfstoffe, mit denen jetzt experimentiert wird, werden kaum helfen. Günter Heidemann sieht „technische“ Probleme, die nicht zu bewältigen seien. Wie will man die Tiere einfangen, wenn sie schon bei einem Anflug auf die Seehundbänke sofort ins Wasser springen? Außerdem müßten die Impfungen, sollten sie wirksam bleiben, mehrfach wiederholt werden. Ein undurchführbares Manöver. Der Seehund-Experte der Kieler Universität: „Das kann man mit einer Wildpopulation nicht machen.“ Die Störungen durch die Jagd auf die Tiere wären am Ende größer als der von einer Impfung erhoffte Effekt.

Die einzigen Tiere, die jetzt behandelt werden könnten, sind die bereits kranken Seehunde, die gefunden werden. Aber die seien, so Heidemann, in aller Regel schon so geschwächt, daß jede Therapie zu spät kommt. Für Heidemann bleibt auch in diesem Jahr nur die Beobachtung der Epidemie und die Chronistenpflicht der Dokumentation. Die toten Seehunde werden von ihm weiterhin aufgelesen und zur Sezierung vorbereitet. Wichtigste Aufgabe aber bleibe die Prävention gegen das Sterben der Robben. Und hier stehe nach wie vor die Sorge um einen optimalen Lebensraum Nordsee an erster Stelle. „Wir müssen Bedingungen schaffen, die den Tieren ein Überleben ermöglichen.“ Die Tatsache, daß das Robbensterben in den ökologisch reinsten Meeresbereichen im nördlichen Norwegen und in Island bisher nicht aufgetreten sei, ist für Günter Heidemann ein wichtiges Indiz dafür, daß die saubere Nordsee die beste Krankenschwester für die Tiere ist.

Bleibt am Ende zumindest eine positive Nachricht zu verkünden. Der milde „Winter“ mit seinen außergewöhnlich hohen Temperaturen hat den Seehunden nicht geschadet. Bei der dicken Speckschicht, die ihren Köprer umschließt, ist ihnen die Wassertemperatur piepegal.