Verdrängung

■ Gorbatschows Nationalitätenpolitik in der Krise

Leider rächt sich nun die zweideutige Haltung Gorbatschows und seiner Reformercrew in der Nationalitätenfrage. Schon in Armenien und Aserbaidschan hatte das Moskauer Krisenmanagement versagt und außer Autoritärem kaum etwas anzubieten. In den baltischen Ländern kann aufgrund der politischen Reife der Nationalbewegungen noch die Balance gehalten werden. Doch mit den Ereignissen in Georgien wurde wieder von Moskau aus die negative Stimmung angeheizt. Denn wer die Repressionsmaschine in Bewegung setzt und den Tod von offiziell achtzehn - wahrscheinlich aber mehr - Menschen provoziert, dazu noch die Demonstrationsgesetze verschärft, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Erregung steigt. Auch der Georgier Schewardnadse wird es jetzt schwerhaben, seinen Landsleuten den brutalen Einsatz der Ordnungstruppen des Innenministeriums zu erklären.

Die Perestroika sollte mittels der Offenheit und der Demokratisierung ursprünglich vor allem die wirtschaftlichen Ressourcen besser nutzen helfen und der Gesellschaft des Mangels ein Ende setzen. Doch viele Probleme traten in ihrer kurzen Geschichte auf, die vorher nicht gesehen wurden: Die Katastrophe von Tschernobyl und ihre Folgen, die Trägheit und der Konservativismus vieler Menschen, die Zähigkeit einzelner Teile des Apparats, die Rückschläge in der Versorgungslage und so weiter und so weiter. Und vor allem sahen die Reformer nicht voraus, welche Sprengkraft die nationalen Konflikte in sich bergen.

Vielleicht ist es die Lüge der sowjetischen Geschichtsschreibung selbst, worauf ihre Fehleinschätzung beruht. Die Lüge nämlich, das Sowjetimperium habe in seiner immerhin schon über 70jährigen Geschichte den Sowjetvölkern ein gemeinsames Staatsgefühl gegeben. Es wurde verdrängt, was nicht wahr sein darf: die Sowjetunion fußt auf dem Expansionsdrang des Zarismus. Und der hatte einen imperialistischen Charakter. Der kurzen Zeit der „Leninschen Nationalitätenpolitik“ nach 1917, die den unterschiedlichen Nationalitäten die Freiheit der Entscheidung, bei der Union zu bleiben, selbst überließ, wurde spätestens durch Stalin ein Ende gesetzt. Wenn heute den Nationen, wie in der jüngsten Verfassungsdebatte geschehen, sogar noch das formale Recht genommen werden soll, aus der Union auszutreten, werden gerade die Wünsche, dies zu tun, geweckt.

In Georgien spielt aber nicht nur das Verhältnis zwischen Zentrale und Peripherie die alleinige Rolle im Konflikt. Wenn es dort möglich ist, der Minderheit der Abchasen Rechte zu beschneiden, zeigt sich der georgische Nationalismus keinen Deut dem russischen überlegen. Doch entschuldigt die politische Unreife einiger georgischer Nationalisten die Rückkehr zur harten Linie in Moskau nicht. Wie soll denn die Nationalitätenkonferenz, die im Juni tagen soll, zu Ergebnissen und Kompromissen führen, wenn ihr jetzt schon die Spielräume dafür beschnitten werden?

Erich Rathfelder