Dick und dünn-betr.: "Mit bangem Blick auf die Waage", taz vom 23.3.89

betr.: „Mit bangem Blick auf die Waage“, taz vom 23.3.89

(...) Warum beziehst Du Dich fast ausschließlich auf einschlägig „patriarchalische“ Medien wie 'Brigitte‘ und das ZDF? Es gibt doch seit langem eine Reihe von Büchern aus der Sicht von Feministinnen und/oder Betroffenen, die sich weit weniger oberflächlich mit dem Thema auseinandersetzen.

So läßt Du außer acht, daß Bulimie weniger ein individuelles Problem als das Produkt einer leistungsverpflichteten Industriegesellschaft ist, in der sich Frauen auf ihren schlanken, sexy Körper reduzieren lassen (müssen) - einer Gesellschaft, in der Sensibilität nichts und Funktionieren alles ist.

Du schreibst unhinterfragt, daß 77 Prozent der Frauen die Furcht vorm Dickwerden als Einstiegsgrund angeben. Stehen dahinter nicht aber ganz andere psychische Probleme und Zwänge, die es aufzuarbeiten gilt: den Blick von den Symptomen auf die Ursachen zu wenden, ist schmerzhaft, erfordert Geduld und konfrontiert uns sowohl mit unseren Reichtümern wie mit den Abgründen.

In den inzwischen zahlreichen Selbsthilfegruppen unternehmen wir den ersten und wichtigen Schritt, die teilweise dramatische Isolation der/s Süchtigen zu durchbrechen.

Dein Satz „oft reichen Gespräche, die die alltäglichen Probleme angehen“, ist für uns ein Schlag in den Magen, weil er tiefsitzende Lebensangst, Panik vor einer scheinbaren Unveränderbarkeit auf Kaffeeklatschniveau reduziert.

Fressen und Kotzen gehören zusammen und können nur in ihrem Zusammenhang angegangen und geklärt werden. Dabei geht es nicht nur um die exzessiven Freßattacken, im Verlauf der Sucht wird es problematisch, sich selbst kleinste Essensmengen zuzugestehen.

Deine Aussage, ausschließlich Frauen seien betroffen, ist schlichtweg falsch. Die Zahl betroffener Männer steigt ebenfalls.

Auch daß Frauen mit fortschreitender Sucht ständig dicker werden, ist falsch. Das Gegenteil, herbeigeführt zum Beispiel durch Abführmittel, Appetitzügler und hochfrequentes Kotzen ist genauso häufig der Fall.

Selbsthilfegruppe, Berlin