„Frühwarnsymptome“

■ Klaus Doerner ist Lehrbeauftragter für medizinische Soziologie an der Psychiatrischen Klinik in Hamburg

taz: Ist die Wiener Mordserie im Krankenhaussystem, das sein Pflegepersonal mit der extremen psychischen Belastung auf den Intensivstationen weitgehend allein läßt, schon mitangelegt?

Klaus Doerner: Ich denke weniger im Krankenhaussystem als im Gesellschaftssystem. Die Geschehnisse in Wien oder auch in Wuppertal sind symptomatisch für eine Vermehrung der Alten, und infolge eine Entwertung der Alten, von daher auch die größere Neigung, sie unter dem Kosten-Nutzen-Gesichtspunkt zu betrachten. Diese Tendenz besteht schon seit Anfang des Jahrhunderts.

Zuerst findet jeder die Vorgänge sehr schrecklich, dann werden die Täter kriminalisiert oder pathologisiert, und damit entledigt man sich des Problems. Niemand denkt aber über die Strukturen nach, die solche Ereignisse hervorbringen.

Muß man jetzt über die begründete Angst vor Kunstfehlern im Krankenhaus auch noch die Angst haben, aktiv umgebracht zu werden.

Natürlich begibt man sich beim Schritt ins Krankenhaus in die Abhängigkeit einer anonymen Institution. Die Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben verknüpft ja mit ihrer Kritik an der Medizin die Aufforderung, daß sich jetzt die mündigen Bürger zusammentun sollen, um den Zeitpunkt ihres Todes selbst zu bestimmen. Wenn eine Hilfsorganisation großen Zulauf findet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, allen Leuten, die sagen, jetzt bin ich suizidal, beizuspringen, ist dies Ausdruck einer in der Gesellschaft weit verbreiteten Mentalität. Eine Mentalität, die zwar mit dem Begriff des Mitleids operiert, über die sich jedoch das Finanz- und Wirtschaftsministerium, die Rentenversicherer und Krankenkassen stillschweigend freuen können.

Ist die Sterbehilfediskussion nicht erst mit der Apparatemedizin aufgekommen?

Die Kritik an der Apparatemedizin der Intensivstationen ist berechtigt, auch wenn sich gerade auf dem Feld der Intensivstationen viel getan hat. Aber man muß auch sehen, daß sie sich mit einer anderen in der Gesellschaft vorhandenen Tendenz verbindet: In der Tat haben die Ärzte selbst durch ihren Fortschrittsglauben die Vorstellung genährt, daß alt werden, behindert sein und Schmerzen haben nicht zum Leben gehören. Unter dieser Voraussetzung ist das Krankenhauspersonal auch leichter verführbar, suizidalen Stimmungen der Patienten, die im Alter immer häufiger auftreten, nachzugeben.

Was wäre also notwendig, um den betroffenen Frauen in den pflegenden Berufen das Leid erträglich zu machen?

Erfurcht vor dem Leben. Aber diese Ethik hat keine Konjunktur. Die Hospizbewegung bemüht sich etwa um eine humanen Umgang mit Sterbenden, der die Familie und Bekannten in diesen Prozeß integriert.

Halten sie es für bezeichnend, daß es sich um Frauen handelt, die innerhalb der Ärztehierarchie über relativ wenig Macht verfügen?

Der Krankepflegeberuf wird ja immer weiblicher, weil Männer sich dafür zu schade sind. Selbst in Zeiten massiver Arbeitslosigkeit hat es keinerlei Tendenzen gegeben, Männer in diesen Beruf zu bringen. Auch auf der Ärzteebene geht der Trend zu mehr Frauen, und dennoch gab es schon immer eine Differenz zwischen Ärzten und Pflegern in der Einschätzung von Patienten, ganz einfach weil das Pflegepersonal ständig mit den Kranken konfrontiert ist. Dann kommt man natürlich schneller in die Lage, etwas nicht mehr mitansehen zu können. Wenn ein Arzt etwas nicht mehr mitansehen kann, hat er viel bessere und legalere Möglichkeiten, die zudem nicht zu kontrollieren sind, Spritzen zu geben. Über die Dunkelziffern hier wissen wir überhaupt nichts.

Solange die Ärzte meist männlich, die Schwestern meist weiblich waren, barg diese Konstellation natürlich auch ein Gefühl von Ohnmacht und Wut. Die Schwestern sind meistens länger auf der Station, die Ärzte kommen neu hinzu, überspielen ihre Unerfahrenheit und hören nicht auf die erfahrene Schwester. Unter diesen Umständen können natürlich das Ohnmachtsgefühl und die Wut der Schwester wachsen. Insofern spielen hier die Mann-Frau- als auch die Artz Schwesternhierarchie zusammen.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus für Krankenhaus- und Personalstruktur?

Was jetzt noch relativ harmlos daher kommt, ist wie gesagt Symptom einer breiteren Mentalität. Wenn jetzt noch die Gentechnologie hinzukommt, wo man alle Arten von Behinderung als von den Eltern verschuldet definieren kann, die es ja früher hätten wissen können oder abtreiben können, spitzt sich das noch zu. Ich halte die jüngsten Fälle für Frühwarnsymptome. Der Technisierung der Ausbildung muß zudem eine ethische Reflektionsfähigkeit zur Seite gestellt werden. Da gibt es Nachholbedarf.

Gespräch: Simone Lenz

Veröffentlichungen von Klaus Doerner:

Tödliches Mitleid - Die soziale Frage: Entstehung, Medizinisierung, NS-Endlösung - heute - morgen. Verlag Jakob van Hoddis, 1988;

Bürger und Irre, Fischer 1975;

Diagnosen der Psychiatrie, 1981;

Ursula Plog-Doerner/Klaus Doerner, Irren ist menschlich, Lehrbuch der Psychiatrie 1986;