Tod im Wiener Krankenhaus

■ Schwestern gestehen 48 Tötungen an Patienten im Krankenhaus Lainz / Aus Wien Helga Lukoschat

Wenige Tage nach dem Bekanntwerden der „Mordserie“ im Wiener Krankenhaus Lainz durch Schwestern wurde gestern der Stationsarzt Prof.Pensendorfer vom Dienst suspendiert. Vor laufenden Kameras beschuldigte der mit der Untersuchung der Mordserie beauftragte Leiter des Sicherheitsbüros, Max Edelbacher, den Stationschef, eine „Mauer des Schweigens“ um die mysteriösen Todesfälle seiner Station zu errichten. Am Dienstag abend stellte sich eine fünfte Schwester der Polizei, die der Mitwisserschaft verdächtigt wird.

Eine „ambitionierte Person“ sei sie gewesen und „beliebt bei den Patienten“. Prof.Franz Pesendorfer, Chef der ersten medizinischen Abteilung im städtischen Krankenhaus Wien -Lainz, schildert seine Untergebene Waltraud Wagner als eine normale Kollegin - aufgefallen sei sie nur durch ihr Engagement. Die 30jährige Stationsgehilfin ist die Hauptverdächtige in den Mordfällen im Lainzer Krankenhaus. Vier Schwestern sind seit dem Wochenende in Untersuchungshaft; sie haben gestanden, 49 Patienten getötet zu haben. Eine fünfte Schwester ist seit Dienstag verhaftet. Bei ihr ermitteln die Behörden auf Mitwisserschaft. Allein Waltraud Wagner hat nach eigener Aussage 22 Menschen auf sehr grausame Weise getötet: sie flößte den Patienten Wasser ein, bis diese erstickten.

Für Franz Pesendorfer sind das Hinweise auf eine „entmenschlichte Persönlichkeit“. Den Widerspruch zu seiner eigenen Schilderung der Wahrnehmung ihrer Person kann er sich nicht erklären. Der etwa 50jährige Professor wirkt erschöpft und kann seine Anspannung nur noch mühsam verbergen. All seine Antworten, und sie wirken schon wie auswendig gelernt, zielen darauf ab, die Taten der Frauen von der konkreten Sitation in seiner Abteilung zu trennen. Und das, obwohl die Schwesterhelferinnen zum Teil über zehn Jahre dort gearbeitet haben. Mehrfach wiederholt er formelhaft die Sätze, die ihn und seine Abteilung retten sollen. Bei den Vieren habe es sich um „wahnsinnigen Einzelgängerinnen“ gehandelt. Denn nur solange „Wahnsinnige“ am Werk waren, können unliebsame Fragen zurückgewiesen werden. Fragen nach den Zuständen auf einer Station, nach dem Kollegenkreis, der von den Tötungen nichts bemerkt haben will. Fragen nach der Verletzung der ärztlichen Aufsichtspflicht und nicht zuletzt die Frage, was es mit einem Gesundheitssystem auf sich hat, das für all das den Rahmen abgibt. Nicht befragt werden durften die Schwestern der Station, als Zeuginnen sind sie zum Schweigen verpflichtet.

Das Lainzer Krankenhaus - mit rund 1.300 Betten eines der großen Häuser Wiens - ist mit seinen acht „Pavillons“ ein weitläufiger Komplex. In dem großen Park gibt es überall prächtige alte Bäume, Springbrunnen, Kieswege, der Flieder blüht, und die Patienten sitzen auf den Bänken und genießen die Frühlingssonne. Fast alle haben sie die Boulevardzeitungen in der Hand und studieren die Schlagzeilen über die „Mörderbande“ und die „teuflischen Schwestern“.

Viele wollen auf Fragen nicht antworten. „Kein Kommentar“, heißt es unwirsch. JournalistInnen und Kamerateams werden mißtrauisch beäugt. Und das ist nicht verwunderlich. Seit Tagen schlachtet die Boulevardpresse über Seiten die „Mordserie“ aus. Die Schwestern werden als monströse, „enthemmte“ Frauen beschrieben, die mit Lust mordeten. Der „Rädelsführerin“ - der „Hexe“ Waltraud Wagner - wird mit unerbittlicher Folgerichtigkeit unterstellt, sie habe sexuelle Beziehungen zu Ärzten unterhalten.

Nach den bisherigen Vernehmungen hat Waltraud Wagner seit 1983 Patienten und Patientinnen getötet. Zuerst im Abstand von mehreren Monaten, dann in immer kürzeren Zeiträumen. Die drei anderen Schwestern sollen von ihr in die Tötungsmethoden eingeweiht worden sein. Es wurde Insulin injiziert, Überdosen an Schlafmitteln verabreicht und Wasser eingeflößt bis zum Erstickungstod. Bei allen drei Methoden ist der Nachweis der gewaltsamen Tötung überaus schwierig. Insulin ist nur unmittelbar nach der Verabreichung nachweisbar, ähnlich verhält es sich mit dem Schlafmittel Rohypnol. Und auch beim Erstickungstod ist die akute Todesursache Herzversagen. Das stellt die Ermittlungen der Wiener Kriminalpolizei vor eine schwierige Aufgabe: Um die nötigen Indizien zu erbringen, sollen jetzt die Krankengeschichten und Obduktionsbefunde überprüft werden, auch Exhumierungen sind nicht ausgeschlossen. Denn allein die Geständnisse der vier Frauen reichen für eine Anklage auf Mord nicht aus.

„Durch die Wahl und den Wechsel der Methoden“ sei nichts aufgefallen, so Pesendorfer. Das durchschnittliche Alter der getöteten Patienten habe bei 84,7 Jahren gelegen. Bei rund der Hälfte bestand nur zu 50 Prozent Aussicht auf Erfolg der Heilbehandlung. Deshalb habe niemand Verdacht geschöpft. Eine Erklärung, die nicht zufriedenstellen kann. Eine ganze Abteilung mit 14 Ärztinnen und Ärzten und 60 Schwestern und Pflegerinnen sollen über Jahre nichts bemerkt haben? Denn „Auffälligkeiten“ gab es schon vor einem Jahr. Es kursierten Gerüchte, daß Patienten per Schlafmittel „ruhiggestellt“ würden. Bei einer 84jährigen Frau wurden unmittelbar nach ihrem Tod Spuren von Schlafmitteln festgestellt. Pesendorfer informierte die Polizei. Diese nahm Ermittlungen auf - und stellte sie nach kurzer Zeit wieder ein. Denn die gerichtsmedizinische Obduktion hatte kein Ergebnis gebracht.

Die öffentliche Kritik an der Ärzteschaft ist in den letzten Tagen immer lauter geworden. Vertreter der Volkspartei forderten sowohl die Suspendierung der verantwortlichen Abteilungsleiter als auch des Gesundheitsstadtrats Stacher (SPÖ). Eine unabhängige Kommission aus Juristen und Medizinern soll jetzt die Vorgänge im Pavillon fünf und insbesondere auch die Verantwortung von Oberschwestern, Ärzten und Ärztinnen untersuchen.

Trotz der Besonderheiten des Wiener Falles führen die Fragen nach den Ursachen und Beweggründen der vier Schwestern mitten hinein in die Problematik von Großkrankenhäusern und den desolaten Zuständen bei der pflegerischen Betreuung von Patienten, aber auch der psychologischen Betreuung des Pflegepersonals selbst. Die Probleme gleichen sich: Überall werden die Kosten im Gesundheitswesen „bekämpft“, Stellenabbau und chronischer Personalmangel belasten das Pflegepersonal körperlich und psychisch. Es gibt keine Möglichkeiten für das Pflegepersonal, mit Fachleuten über Probleme reden zu können, Aggressionen gegenüber Patienten zu verarbeiten, psychische Distanz zu gewinnen. Dazu kommt der immer noch vorhandene Anspruch der immer freundlichen, hilfsbereiten und aufopferungsvollen Krankenschwester, der quer zu den Realitäten in den Kliniken liegt.

All das kommt auch in den jetzigen Wiener Fällen zusammen. Seit Jahren werden in Wiens städtischen Krankenhäusern Stellen abgebaut; der Personalmangel wird mit Hilfe von kurz angelernten Hilfskräften überbrückt. Von den rund 10.000 Krankenschwestern sind etwa 6.000 „geprüfte Stationsgehilfinnen“. In einer zehnmonatigen Zusatzausbildung lernen sie die Grundbegriffe der Pflege und Hygiene kennen. Dem Gesetz nach dürfen sie eine Spritze nicht einmal anrühren - es sei denn um sie in den Abfalleimer zu befördern. Daß das Pflegepersonal dennoch ständig die Kompetenzen überschreiten muß, weil sonst der Betrieb zusammenbrechen würde, ist für alle Kenner der Krankenhausszenerie ein offenes Geheimnis.

Aber angelerntes Personal ist billiger: 8.000 bis 10.000 Schilling netto erhält die Stationsgehilfin, während eine diplomierte Krankenschwester mit vierjähriger Ausbildungszeit rund 15.000 Schilling (rund 2.100,- Mark) verdient. Ein Gehalt, das für österreichische Verhältnisse und die sehr niedrigen Verdienste in anderen „Frauenberufen“ recht passabel ist. So fordern die Vertreterinnen von Krankenschwestern auch nicht vorrangig bessere Bezahlung, sondern eine bessere Betreuung. Veronika Maier, Schuloberin an dem einzigen städtischen Fortbildungszentrum für Krankenschwestern, hält die Einrichtung von Supervisionen auf den Stationen deshalb für ganz wichtig.

„Wer 35 Dienstjahre körperlich und psychisch unbeschadet übersteht, ist ein Glücksfall“, lautet das Fazit von Holda Harrich, grüne Abgeordnete im österreichischen Nationalrat, die als pensionierte Krankenschwester aus eigener Erfahrung spricht. Sie nimmt die Lainzer Vorfälle zum Anlaß, grundsätzliche Kritik am Gesundheitssystem zu üben. Und auch für sie spielt in der Frage nach den Motiven der vier Schwestern noch ein weiterer Aspekt hinein. In der Diskussion um „Sterbehilfe“ zeige sich für sie die Vorstellung, daß alte Menschen ohnehin überflüssig seien. „Ich halte es nicht für ausgeschlossen“, so formuliert sie vorsichtig, „daß bei den Frauen auch etwas von dem Denken des Nationalsozialismus und seiner Ideologie des unwerten Lebens hineingespielt hat.“

Ob es eine direkte Linie zur NS-Ideologie gibt oder nicht, ist für Werner Vogt allerdings nicht die entscheidende Frage. Der Chirurg und Publizist, der sich seit 20 Jahren kritisch mit dem österreichischen Gesundheitssystem beschäftigt, sieht vielmehr in der gegenwärtigen Einstellung zu alten Menschen, die medizinisch und vor allem pflegerisch nur mit dem Allernötigsten versorgt werden, das strukturelle Problem. „Wenn zu uns ein alter Mensch kommt, der zum Beispiel auf der Straße gestürzt ist, dann flicken wir ihn zusammen. Wenn er dann im Pflegeheim landet und niemand sich intensiv um ihn kümmert, überläßt man ihn dem Tod.“

Das Pflegeheim in Lainz - mit 3.200 Betten eine sehr große Anstalt - hatte lange Zeit einen besonders schlechten Ruf, es galt als die trostloseste Endstation der WienerInnen. Bereits Anfang der 80er Jahre gab es eine kritische Buchveröffentlichung mit dem Titel: Lainz - ein Ort zum Sterben. Die desolaten Zustände, so Werner Vogt, hätten sich seitdem zwar gebessert, aber immer noch könnten die alten Menschen nicht so betreut werden, wie es wünschenswert wäre. In Nachbarschaft zum Pflegeheim liegt nun das Krankenhaus Lainz. Und dorthin, in den Pavillon fünf, kommen die meisten alten Menschen aus dem Heim, wenn sie akut erkranken.

Die Suche nach Motiven der Täter gleicht einem Mosaik, bei dem Steinchen für Steinchen zusammengesetzt werden muß. Alles steht miteinander in Verbindung: Überlastung und Frust, vielleicht auch Auflehnung gegen die Macht der Ärzte, eine immer stärkere Feindseligkeit gegen die alten Menschen. Vielleicht hat Waltraud Wagner das erste Mal aus Versehen eine zu hohe Dosis verabreicht und dabei gemerkt, wie leicht es ist, einen Patienten „ruhigzustellen“. Irgendwann müssen alle Mechanismen der Selbstkontrolle versagt haben. Irgendwann ist das Töten möglicherweise zu einer Art Routine geworden. Nur wenige Äußerungen gibt es bisher von den Schwestern selbst. „Sterbehilfe“ haben sie leisten wollen, äußerte Waltraud Wagner in den ersten Vernehmungen. Zu ihrem Anwalt soll sie nun gesagt haben: „Nur am Anfang war es Mitleid.“