Wenn im Kiez der Kochtopf brodelt

■ Gestern mittag eröffnete der Verein „Jugendwohnen im Kiez“, genannt „Schildkröte“, die erste Kantine mit fahrbarem Mittagstisch / Während einer dreijährigen Beschäftigungszeit sollen die Jugendlichen Erfahrungen im Gaststättengewerbe sammeln

Was sind die Eigenschaften einer Schildkröte? Versucht der Feind allen Kriechertums diese Frage spontan zu beantworten, dann lautet generell die Definition: Eine Schildkröte kriecht auf vier häßlich dicken Beinen langsam durch die Gegend, frißt ununterbrochen Salat und verkriecht sich bei jeder brenzligen Situation unterm mitgeschleppten Panzer. Kommt sie nicht in den Genuß eines biblischen Alters, dann ist sie wohl als wesentlicher Bestandteil von Schildkrötensuppe im Kochtopf einer Dosenfabrik gelandet.

Was aber passiert, wenn „Schildkröte“ selber den Kochlöffel schwingt und rund 300 hungrige Mäuler täglich stopft? Das müssen sich auch die MitarbeiterInnen des Vereins „Jugendwohnen im Kiez“ gefragt haben, als sie 1987 beschlossen, eine Kiez-Küche unter dem Namen „Schildkröte“ zum Kochen zu bringen. „Fahrbahrer Mittagstisch mit Sozialkantine“, so lautet die Bezeichnung des Projekts in der Kreuzberger Boppstraße 7, das gestern mittag vorgestellt wurde. Nach drei Beschäftigungsprojekten für Jugendliche im Baubereich, wie zum Beispiel dem Hausausbau mit 30 Punks in der Görlitzerstraße, ist die Kiez-Kantine „Schildkröte“ ein weiteres Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekt von „Jugendwohnen im Kiez“.

„Bei unseren Bauarbeiten mit den Punks standen wir jeden Tag vor der Frage, wo wir mittags billig was zu futtern bekommen könnten. Dieses tägliche Loch im Bauch hat uns dann auf die Idee gebracht, selber mit Jugendlichen eine Kantine aufzubauen“, erklärt der Mitarbeiter Gunter Fleischmann den Gründungsgedanken. Später seien sie dann bei der Suche nach Geldgebern auf die Förderungsgelder für Projekte mit Sozialhilfeempfängern gestoßen. Durch weitere Senats- und Bezirksamtsunterstützung habe die „Schildkröte“ dann konkrete Formen angenommen, so Fleischmann bei der Eröffnung der Kantine. Und so halten in Zukunft 15 junge SozialhilfeempfängerInnen sowie fünf Angestellte, die den Jugendlichen in Theorie und Praxis zur Hand gehen sollen, die Stellung, um werktäglich 300 Essen zu fabrizieren - ganz im Sinne des biodynamischen Ernährungszeitalters - versteht sich. Von Vollkornspätzle bis zu Rinderbrust in Sahnemeerrettich reicht das Speisenangebot, das die ehemaligen SozialhilfeempfängerInnen zum Billigtarif fünf Tage in der Woche an Mann und Frau bringen wollen.

Nicht nur im farbenfröhlich gestylten Interieur der „Schildkröte“ selber, sondern auch außerhäusig soll der Kiez mit gesundem Essen versorgt werden. Stichwort: Fahrbahrer Mittagstisch. Rund 150 Essen will das „Schildkröten-Team“ täglich an KiTas, Bürogemeinschaften oder Werkstätten abgeben. „Wir haben jetzt schon über 20 Adressen von Gruppen, die wir beliefern sollen“, so sagt die Geschäftsführerin Eva Lambeck.

Typisches Problem jeder Schildkröte dabei: Das Essenausfahren wird nicht schnell genug gehen. „Wegen der vielen Staus auf den Straßen, wollen wir demnächst auch Fahrräder zum Essenaustragen benutzen“, erklärt die Frau, die auch gleichzeitig als Hauswirtschafterin unter den Jugendlichen fungiert. Mindestens fünf Personen pro Adresse müssen das tägliche Menü, das in wiederverwendbaren Behältern transportiert wird, abnehmen beziehungsweise aufessen. Die „Schildkröten-AbonnentInnen“ können, wie die Esser in der Kantine auch, jeweils zwischen drei verschiedenen Gerichten wählen - jeweils ökologisch -vegetarisch oder traditionell-tierisch. „Wir wollen mit gesunder Ernährung auch gerade die vielen Jugendlichen im Kiez ansprechen, die sich mittlerweile fast ausschließlich von Fastfood und Pommes ernähren“, meint Günter Fleischmann. Schüler, Auszubildende, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger könnten sich daher Essensbons zu reduzierten Preisen kaufen. Die Beschäftigten haben sich der Kiez-Kantine für drei Jahre verpflichtet. In dieser Zeit sollen die überwiegend 18- bis 25jährigen im Rahmen des Beschäftigungs- und Qualifizierungsprojekts die Fähigkeiten eines Hotel- und Gaststättengehilfen erlernen. „Wir haben extra kein Ausbildungsprojekt draus gemacht, weil die Jugendlichen auf diese Weise mehr verdienen“, so Mitarbeiter Fleischmann. 1.300 Mark beträgt das Monatseinkommen der „Schildkrötenköche“. „Von 400 Mark Ausbildungsvergütung kann doch kein Jugendlicher leben, wenn er einen eigenen Haushalt zu bezahlen hat“, erklärt der Vertreter von „Jugendwohnen im Kiez“ weiter.

Gedacht sei, so Fleischmann, daß die TeilnehmerInnen nach drei Jahren genügend Praxis in der Kantine gesammelt hätten, um auch auf dem normalen Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden. „Die Jugendlichen sollen aber nicht nur in der Küche zum Einsatz kommen“, betont der Mitarbeiter. Im periodischen Wechsel werde immer ein Teil der Beschäftigten im Betriebsbüro, beim Einkauf, in der Kantine sowie mit der Auslieferung beim fahrbaren Mittagstisch beschäftigt sein. Fleischmann: „Je nach Neigung können sich die Jugendlichen dann im letzten Ausbildungsjahr entscheiden, wo sie am liebsten arbeiten wollen“.

cb