„Affidamento“ - der allerletzte Schrei

■ Das neue Kultbuch der hiesigen Frauenszene kommt aus Milano / Was als „neue politische Praxis“ gefeiert wird, entpuppt sich als der bekannte Zusammenschluß von Frauen in Projekten und Initiativen / Die heilige Kuh der Gleichheit wird jedoch geschlachtet / Soll „affidamento“ den alten Konflikt zwischen Autonomen und Institutionsfrauen wieder entfachen?

Heide Soltau

Am Eingang eine Schüssel mit Süßigkeiten. Schokonüsse, Smarties, Maoam und klebrige Toffees. Eine hübsche Idee der Veranstalterinnen: Frauen des Hamburger Frauenbuchladens und des Frauenbildungszentrums. Sie hatten mit dem Ansturm von mehreren hundert Frauen gerechnet und sich reichlich eingedeckt mit süßen Sachen. Immerhin stand „das neue Kultbuch“ zur Debatte, wie vorher aus dem Frauenbildungszentrum zu hören war. Eine Einschätzung, die nicht falsch sein dürfte. Wo die Mailänderinnen hinkommen, sind die Säle voll. Es ist zu befürchten, daß das Buch Wie weibliche Freiheit entsteht - Eine neue politische Praxis (Orlanda Frauenverlag) hierzulande einen feministischen Fundamentalismus hervorkitzelt, der in den letzten Jahren an Einfluß verloren hatte.

Italien ist „in“, was aus Italien kommt, ist gut. Nicht nur die Pasta. Nachrichten aus der italienischen Frauenbewegung werden ebenso begeistert aufgenommen wie die neuesten Kreationen aus dem Schuh- und Showbusiness. Publikationen italienischer Feministinnen stoßen auf starkes Interesse. Nicht ohne Neid nimmt die etwas schwerblütige und schwerfällige bundesdeutsche Frauenszene die Aktivitäten der Italienerinnen zur Kenntnis. Und weil deren Leichtigkeit und Charme so beeindrucken, wurde wiederholt versucht, manches aus dem sonnigen Süden einfach zu uns herüberzuholen.

Neuestes Objekt der Begierde: das „affidamento“, eine Entdeckung von 35 Frauen aus dem Frauenbuchladen in Mailand. Kaum ist das Buch übersetzt, beeilen sich die bundesdeutschen Frauen, sich die Sache einzuverleiben. Inzwischen ist das „affidamento“ der letzte Schrei in der Frauenszene. I.

„Affidamento“ meint die Beziehung von Frauen zueinander. Damit sind nicht nur Freundschaften gemeint, es umfaßt weit mehr: Frauen sollen sich auf Frauen beziehen, auf ihre aktuellen und historischen Leistungen und Fähigkeiten. Nicht Männer und ihre Werke sollen Vorbild und Maßstab sein, sondern Frauen: ihre Bücher, Ideen und Taten, ihr Alltag und ihre Erfahrungen. Das bedeutet „affidamento“, und das feiern die Italienerinnen als „neue politische Praxis“. Die Rechtsanwältin Mariagrazia Campari illustrierte das Prinzip am Beispiel ihrer Berufsarbeit: Sie vertritt nur Frauen und arbeitet eng mit einigen Kolleginnen zusammen, wobei auch Schriftsätze gemeinsam verfaßt werden. Die Philosophiestudentin Laura Roseo macht dasselbe an der Universität, sie kooperiert dort mit einer Professorin.

Fazit: Die Italienerinnen machen nichts anderes als das, was in der Bundesrepublik seit etlichen Jahren versucht und realisiert wird: In Frauenprojekten, innerhalb der Frauenforschung an der Universität, von Anwältinnen in Frauenkanzleien, von Lehrerinnen, Journalistinnen, Philosophinnen, Kunsthistorikerinnen... Überall haben sich Frauen zusammengeschlossen und sind im Begriff, eigene Kommunikationsstrukturen und Bezugssysteme aufzubauen. Und es scheint, als wären die bundesdeutschen Frauen weiter als ihre italienischen Schwestern. Ein Beispiel: Einen größeren Zusammenschluß von Anwältinnen etwa gibt es dort bislang nicht. Und was die Frauenprojekte betrifft, so hat es südlich der Alpen nie die Fülle von florierenden Betrieben gegeben wie hier. Die Italienerinnen sind ärmer als wir und Staatsknete ist nicht zu haben - weder für Frauen- noch für andere Projekte.

„Affidamento“ ist alter Wein in neuen Schläuchen. Mary Daly etwa, die von vielen Feministinnen verehrte amerikanische Philosophin und Theologin, hat sich schon vor Jahren damit auseinandergesetzt. Nun gab sie dem Kind einen anderen Namen: „Frauenidentifiziert“ nannte sie diejenigen, die sich auf Frauen beziehen. Einziger Unterschied: die Bedeutung der Sexualität. Für Mary Daly ist die praktische Konsequenz ihrer theoretischen Überlegungen der Lesbianismus. Nicht so bei den Italienerinnen. Für sie spielt keine Rolle, „mit wem eine Frau eine sexuelle Beziehung hat“ - wie auf der Hamburger Veranstaltung unmißverständlich gesagt wurde und Enttäuschung bei den Lesben hervorrief. Doch wer sich auskennt in der italienischen Frauenbewegung, konnte von dieser Äußerung nicht überrascht sein. Die Gruppe „Rivolta Femminile“ hat schon im Januar 1978 in einem offenen Brief an 'Emma‘ und (damals noch) 'Courage‘ darauf hingewiesen, daß für sie „der Lesbianismus keine politische Alternative“ sei. Es sei unbedeutend, ob eine Frau „hetero oder homo“ ist, wichtig sei die politische Arbeit. II.

Während die süßen Sachen kreisten, gab es vom Podium zunächst weitere bittere Pillen: Wichtiger Punkt und Teil des „affidamento“ ist die Anerkennung der Ungleichheit von Frauen. Die Mailänderinnen sagen „Ungleichheit“ und vermeiden den verniedlichenden Ausdruck „Verschiedenartigkeit“. Damit berühren sie ein Tabu, das gerade in autonomen Frauenkreisen für Zündstoff sorgt. Immerhin ist ein großer Teil der Frauenbewegung einmal mit dem Slogan angetreten: Alle Frauen sind Unterdrückte. Diese von vielen proklamierte „objektive Gleichheit“ untereinander war eine gemeinschaftsstiftende Idee, die in der Vergangenheit viel Streit verursachte. Linke Männer und marxismusgeschulte Frauen hielten bekanntlich den Klassenstandpunkt dagegen und wurden nicht müde, auf die Differenz zwischen Arbeiterin und Kapitalistengattin hinzuweisen. Doch das war einmal. Über derlei Dinge wird heute nicht mehr gestritten. Gleichwohl ist für einen Teil der Frauenbewegung die potentielle Gleichheit der Frauen ein wichtiger Topos geblieben. Sie wird nur anders benannt und heißt heute Frauensolidarität oder Schwesterlichkeit. Daß dennoch in regelmäßigen Intervallen Konflikte aufbrechen und Frauen einander verbal zerfleischen, wird im besten Fall unter dem Stichwort „mangelnde Streitkultur“ verbucht. Die heilige Kuh mit Namen Gleichheit wurde nicht geschlachtet. In vielen Frauenprojekten gilt immer noch, daß alle alles können müssen. Und Lenins Ausspruch, daß auch die Köchin den Staat regieren können muß, wird dort nach wie vor in aller Ernsthaftigkeit vertreten. Arbeitsteilung jedenfalls ist ein rotes Tuch, das auch Sanfte zu Zornausbrüchen reizt.

Nicht so bei den Italienerinnen, die mit einfachen Fragen das Ideal der Gleichheit demontiert haben: Wenn sich Frauen mit berühmten Schriftstellerinnen der Vergangenheit befassen und aus ihren Texten lernen, warum sollte das nicht auch untereinander möglich sein? Warum akzeptieren sie nicht, daß es auch unter ihnen Lehrmeisterinnen gibt, von denen zu lernen sich durchaus lohnt? Für die Mailänderinnen ist das der Dreh- und Angelpunkt ihrer Politik. Wenn Frauen sich auf Frauen beziehen, auf Frauen in Geschichte und Gegenwart, dann müssen sie hinnehmen, daß es sowohl Frauen mit verschiedenen Kompetenzen und Fähigkeiten gibt als auch Frauen, die für andere eine Autorität darstellen und ein Vorbild verkörpern können.

Das sagt sich leicht. Das Wort Autorität hat für deutsche Ohren einen unappetitlichen Beiklang und ruft Abwehr hervor. Doch mit der Ungleichheit leben und Autoritäten akzeptieren

-das geht auch in Italien nicht ohne Konflikte, beruhigte die Anwältin Mariagrazia Campari die protestierenden Zuhörerinnen. III.

Im Mittelpunkt der „neuen politischen Praxis“ der Italienerinnen steht die sexuelle Differenz. Sie gesellschaftlich sichtbar zu machen ist das eigentliche Anliegen der Mailänderinnen und zugleich der umstrittenste Aspekt ihrer Überlegungen. Auch in Italien. Denn damit verbunden ist die radikale Ablehnung aller Gleichheits- und Gleichstellungspolitik. Ihr Argument: Gleichheit bedeutet immer Orientierung an männlichen Normen, und das wollen die Mailänderinnen nicht. Sie wollen die Frauen zum Sprechen bringen und ihre sexuelle Differenz thematisieren. Dazu gehört die Entwicklung eigener, weiblicher Normen und Rechte ebenso wie die andere Art des Umgangs miteinander sowie andere Sicht- und Interpretationsweisen. Das klingt gut und klug, ist aber leider sehr abstrakt. Da nützt es auch nichts, bei Luce Irigary und anderen französischen Strukturalistinnen nachzulesen, an denen sich die Mailänderinnen orientieren. Ihre wohlklingenden Ausführungen haben ihren Wert als Theorie; für die politische Praxis und tagespolitische Auseinandersetzungen sind sie wenig tauglich. Das Gerede von der sexuellen Differenz läuft eher Gefahr, nach hinten loszugehen. Wer sich gänzlich raushält aus den gegebenen Strukturen - und diese sind leider männlich - überläßt das Feld den Gegnern.

Die Vehemenz, mit der die Italienerinnen die Gleichheitspolitik kritisieren und ablehnen, läßt aufhorchen. Profitieren sie nicht auch von den Gesetzesreformen der letzten 20 Jahre? Kommt es ihnen nicht zugute, wenn es mehr Professorinnen gibt, mehr Direktorinnen, mehr Ingenieurinnen...?

Und der Abtreibungsparagraph? Ist es nicht ein Fortschritt, wenigstens einen Abbruch machen zu dürfen, auch wenn das Ziel, die ersatzlose Streichung des Gesetzes, nicht erreicht wurde?

Nein, sagen die Mailänderinnen. Gesetzesreformen und Quoten verdanken sich einem „neutralen Gerechtigkeitsprinzip“, das im Widerspruch steht zur Politik der sexuellen Differenz. Sie verfahren nach folgender Methode: Sie bauen starke Frauenbezüge auf und machen dadurch Frauen sichtbar. So würden Lücken erkennbar, die mit Frauen gefüllt werden könnten. Auf diese Weise werde nichts formal gelöst, sondern die Basis habe die Möglichkeit, eine größere Beteiligung von Frauen an der Macht zustande zu bringen. Damit könnten Quotenbeschlüsse sogar überboten werden, wie die Italienerinnen an einem Beispiel zeigten. Statt der geforderten 30 Prozent, was dem Anteil der weiblichen Parteimitglieder entspricht, bekamen die Frauen in der PCI bei der letzten Wahl sogar 41 Prozent. Dank des „affidamento“ und der von vielen vertretenen Politik der Differenz. Sagen die Mailänderinnen.

Meistens jedoch sieht die Realität anders aus. Leider. Die Strategie, erst die Menschen und ihr Bewußtsein zu verändern und zu erwarten, dann würde auch eine andere Welt mit anderen Gesetzen und Bestimmungen entstehen, war wenig erfolgreich. Das müssen selbst die zugeben, die einst gegen Quoten waren. Gäbe es ohne die Quotendiskussion heute in Berlin acht Senatorinnen und in Schleswig-Holstein vier Ministerinnen? Und was ist mit der Frauenfraktion der Hamburger GAL? Hatte sie nicht tatsächlich eine Signalwirkung und viele Frauen ermutigt, sich der Macht zu stellen? Zumindest für eine gewisse Zeit? Oder geht es Frauen heute nicht sehr viel besser, wenn sie ungewollt schwanger sind - trotz der unbefriedigenden Indikationslösung und trotz Memmingen? Wer je illegal auf dem Küchentisch abtreiben mußte, weiß den Fortschritt, nun medizinisch gut versorgt zu sein, zu schätzen. Trotz alledem.

Ist es nicht wichtig, Frauen auch in der Politik sichtbar zu machen? Damit sich das Bild der Politikerin in die Köpfe der Mädchen und Jungen einprägen kann?

Zugegeben, Theorien sind unentbehrlich. Die Gefahr, daß bei tagespolitischen Auseinandersetzungen der Blick auf das Wesentliche verloren geht, ist groß. Gleichheits- und Gleichstellungspolitik sind immer formale Krücken, denen die Idee der Anpassung der Frauen an die Männerwelt zugrunde liegt. Die Differenz der Geschlechter, der andere Blick der Frau und ihr Anderssein sind damit noch längst nicht sichtbar und wirksam. Aber den Weg durch die Institutionen abzulehnen, sich mit dem Aufbau von Frauenbeziehungen und -bezügen zu begnügen und nicht dafür zu sorgen, daß die Interessen von Frauen in unserer Rechtsordnung verankert werden, kommt einem Rückfall in die 70er Jahre gleich.

Daß das Buch der Mailänderinnen auf so große Resonanz stößt und die Begriffe „affidamento“ und „Politik der sexuellen Differenz“ gerade in der Frauenprojektszene die Runde machen, muß nachdenklich stimmen. Während der Aspekt der Ungleichheit von Frauen auf Widerspruch stößt und die mangelhafte Berücksichtigung der Lesben eingeklagt wird, bleiben die Gefahren des „affidamento“ weitgehend ausgeklammert. Abgesehen von einigen grünen Frauen, die an der Ablehnung der Gleichheitspolitik Kritik übten, kamen grundsätzliche Einwände gegen das politische Konzept der Italienerinnen nicht zur Sprache.

In der Bundesrepublik stehen wir heute am Beginn einer Wende. Frauen haben zum ersten Mal in der Geschichte mehr Möglichkeiten, auf den Etagen der Macht mitzumischen. Nicht ausreichend, aber immerhin. Es kann kein Zufall sein, daß ausgerechnet dann ein Buch zum Kultbuch wird, das die Gleichheitspolitik so radikal ablehnt. Sollten Feministinnen kalte Füße bekommen haben und sich in ihr lila Kuschelbett zurücksehnen? Zweifellos ist es dort wärmer. Aber wollen Frauen wirklich kneifen und sich vor den „Frösten der Freiheit“ drücken?