Massaker in der Westbank

Israelische Grenzpolizisten erschossen in Nahalin in der besetzten Westbank sieben Palästinenser / Armee richtet Untersuchungskommission ein  ■  Aus Tel Aviv Amos Wollin

Nach dem Blutbad in dem Dorf Nahalin in der Westbank, bei dem am Donnerstag sieben Palästinenser getötet wurden, herrschte in Jerusalem und Umgebung gestern mittag Hochspannung. Über dreitausend israelische Polizisten und Soldaten bezogen in konzentrischen Kreisen Position um den Tempelberg, wo sich während des islamischen Fastenmonats Ramadan jeden Freitag gewöhnlich bis zu vierzigtausend Menschen zum Gebet versammeln. Nur rund 4.000 handverlesene Gläubige wurden in die Moscheen gelassen. Nach dem Ende des Gebets kam es nicht zu den befürchteten Demonstrationen.

Palästinensische Augenzeugen des Überfalls auf Nahalin am Donnerstag sprachen von einem „wilden Massaker“, bei dem wahllos auf die Bevölkerung geschossen worden sei. Das israelische Militär hielt seine Version von vier „toten Arabern“ aufrecht, gab jedoch gleichzeitig zu, daß die tatsächliche Zahl der Opfer höher sein könnte. Nach Angaben aus Krankenhäusern wurden sieben Palästinenser erschossen und etwa siebzig verletzt, darunter viele schwer. Bewohner des 3.000-Seelen-Dorfes südwestlich von Bethlehem berichteten, daß die israelischen Sicherheitskräfte, vor allem der Grenzschutz, im Laufe der Woche bereits einige provokative Überfälle inszeniert habe. Vor einigen Tagen habe eine Delegation von Notablen bei den Besatzungsbehörden gegen beleidigende Angriffe auf Frauen im Ort protestiert. Soweit sich die Ereignisse rekonstruieren lassen, umzingelte eine Einheit von Grenzpolizisten am frühen Donnerstag morgen zur Zeit des Ramadan-Frühstücks das Dorf. Die Einwohner wurden aufgefordert, anzutreten, um Parolen auf den Hauswänden zu übertünchen und palästinensische Flaggen zu entfernen. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen, in deren Verlauf die Grenzpolizisten das Feuer auf die Bevölkerung eröffneten und dabei scharfe Munition einsetzten. Eine der Verletzten, Fatma Shukara, erklärte im Krankenhaus von Beit Jala gegenüber Journalisten, sie sei von einem Grenzpolizisten in den Rücken geschossen worden. Ihr Onkel und ein Nachbar hätten sie in ein Auto geschafft und seien dann selbst beschossen und verwundet worden.

Der Specher des israelischen Sicherheitsministeriums, Ranan Gissin, bezeichnete demgegenüber Fortsetzung auf Seite 6

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Nahalin als ein besonders gewaltätiges Dorf. Es sei bekannt, daß von dort aus Steine oder Molotow-Cocktails auf israelische Fahrzeuge geschleudert würden. Bei der nächtlichen Aktion habe es sich um eine Suche nach den Steinewerfern gehandelt, und die Dorfbevölkerung habe dies gewaltsam verhindern wollen. Mittlerweile hat die Armeeführung eine Untersuchung eingeleitet um festzustellen, warum der Grenzschutz das Feuer mit scharfer Munition eröffnet habe. Einigen Presseberichten zufolge soll es während der Schießerei zu einer Auseinandersetzung zwischen Armee und

Grenzpolizei gekommen sein, wobei letztere zum „Weitermachen“ entschlossen gewesen sei.

Am Freitag blieben zahlreiche Geschäfte in den besetzten Gebieten aus Protest gegen die Ereignisse in Nahalin geschlossen. Für die Bewohner des Ortes galt eine Ausgangssperre. Nachdem sich die Nachricht über die Vorfälle verbreitet hatten, kam es schon am Donnerstag zu Protestdemonstrationen in anderen Teilen der Westbank und im Gaza-Streifen, bei denen mehrere Palästinenser verletzt wurden. Die PLO hat unterdessen angekündigt, das „Massaker von Nahalin“ vor den Weltsicherheitsrat zu bringen.

Die linken Oppositionsgruppen in Israel forderten unterdessen eine

Sondersitzung des Parlaments, das seit Donnerstag in Urlaub ist. Die Friedensbewegung „Peace Now“ und andere Organisationen riefen zu Demonstrationen an diesem Wochenende auf. Die von den Kommunisten geführte Demokratische Front verlangte eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse, „weil es absurd ist, daß sich die Besatzungstruppe selbst untersucht, wo sie es doch ist, die für diese Vorgänge verantwortlich zeichnet“.

Der Überfall auf Nahalin fiel mit der Rückkehr des israelischen Ministerpräsidenten Jizchak Schamir aus den USA zusammen, wo sich die neue Administration für vertrauensbildende Maßnahmen in den besetzten Gebieten stark gemacht hatte. Nach einem Vorfall in Nablus, wo im De

zember acht Palästinenser bei Konfrontationen anläßlich einer Beerdigung getötet worden waren, steht Nahalin nun für den blutigsten Zwischenfall seit Beginn des Palästinenseraufstandes vor 16 Monaten.

Nahalin war bereits vor 35 Jahren Schauplatz eines israelischen Überfalls, als der Ort noch unter jordanischer Herrschaft war. In einer der damals üblichen Vergeltungsaktionen gegen Marodeure wurden neun Angehörige der jordanischen Sicherheitskräfte getötet und 17 Personen verletzt, als die berüchtigte Spezialeinheit „101“ unter der Führung ihres Gründers, des heutigen Ministers für Handel und Industrie Ariel Scharon, in den Ort eindrang. Jordanien beschwerte sich damals über den Überfall durch „200 israe

lische Soldaten, die um sich schossen, Brandbomben und Explosivstoffe benutzten...“ Das war am 28. März 1954.