EIN SCHLEUDERTRAUM

■ Die Moskauer Wolschanski-Artisten zwischen Ostbahnhof und taz-Fest

I vdrug...“ heißt: „und plötzlich!“ Plötzlich stehen die sechs Leute aus der Wolschanski-Truppe am Donnerstag abend auf dem Ostberliner Hauptbahnhof. Am Samstag sollte diese „Abordnung“ der 70 Artisten starken Moskauer Truppe von Hochseilakrobaten beim taz-Fest im Tempodrom einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Gastprogramm zeigen: selbstentwickelte Schleuder- und Pandelakrobatik an beweglichen Seilen (siehe auch Seite 5). Gerade sind sie aus verschiedenen Türen des Moskau-Expresses gleichzeitig gequollen, so daß die beiden Tazler, die sie abholen, sich einen Augenblick lang mit ihrem Blumenstrauß verworren im Kreise drehen. Marina Wolschanskaja und ihre MitarbeiterInnen Rita, Lena und Natascha, Andrej und Sascha sind begeistert: „Wir waren ja so unsicher, ob ihr unser Telex mitgebracht habt, und jetzt seid ihr sogar mit einem Kleinbus da!“ Der Bustransport hat einen Haken.

Während die sechs Artisten als Ausländer am Checkpoint Charly abgesetzt werden, müssen die beiden Tazler zum Übergang Bornholmer Straße zurück. Der Ostberliner Grenzposten am Checkpoint „mauert“ gegenüber den Russen: „Hier dürfen Sie nicht durch, das ist nur für Autos!“ Auf die Frage nach dem Fußweg schickt er uns mit ausholender Geste in die Ferne. Unverdrossen stapft Lena, mit 23 eines der Nesthäkchen der Gruppe, mit Schlapphut, Knöpfstiefelchen und schwerer Reisetasche über eine Ostberliner Baustelle: „Ein Kapitel für meine Memoiren!“ Nicht umsonst ist sie Bodenakrobatin. Als wir uns nach einer halbstündigen Odyssee erbittert zum Ausgangspunkt zurückgefragt haben, meint der Posten höhnisch: Sie hatten ja nach einem „Fußweg gefragt, und nicht nach dem Grenzübergang für Fußgänger!“ Eine weitere halbe Stunde später treffen Tazler und Artisten auf der westlichen Seite des Checkpoint wieder aufeinander. „Wie seid denn ihr hierhergekommen!“ fragt ein Passant auf russisch, ein Emigrant, der nach eigener Aussage schon seit Jahren in Westberlin lebt. „Zu Fuß!“ kommt die ehrliche Antwort.

Untergebracht sind die Gäste in der UFA-Fabrik. Daß mehrere Betten in den Zimmern stehen, stört keinen: „Hier können wir uns frei bewegen, und die Hauptsache: wir haben eine eigene Küche. Wir sind ständig von allerhand Zipperlein geplagt. Mal hat die eine was mit der Galle, dann der andere etwas mit dem Magen, ein dritter Hexenschuß. Da sind wir froh, wenn wir uns Teechen und Breichen selber kochen können.“ Bei der Vorbesprechung im Tempodrom gibt es dann plötzlich Tränen. Lena hat die Stahtbühne für die taz-Disco gesehen und geht still weinend zur Seite: „I vdrug...“, sagt sie auf unsere Bitten, doch ein bißchen mehr aus sich herauszugehen, „... plötzlich werd‘ ich mir hier die Hangelenke brechen“. Eiligst telefoniert Tempodrom-Manager Mabel nach einem Teppich für Lenas kräftige Sprünge, der schließlich für 200 DM bei einem Turnverein aufgetrieben wird. Und wieder strahlt die Sonne, nicht nur am Himmel. Mehrmals erklären wir den sowjetischen Gästen, daß dieses Wetter nicht unbedingt für den Berliner April repräsentativ ist. „Aber etwas muß doch bei eurem Wetter anders sein“, meinen sie beharrlich: „Schon als wir im Dezember in der Deutschlandhalle auftraten, war es hier so schön warm!“ Und warum wollen dann unsere Gäste in der Kongreßhallenkantine nicht so recht essen? Wie sich herausstellt, fehlt das Brot als Beilage, ohne das einem Russen auch Schweinebraten mit Kartoffeln nicht die Kehle herunterrutschen will.

Die Proben gestalten sich unerwartet schwierig. Andrej, der als Prometheus mit traumhafter Leichtigkeit an einem Lederriemen zum Zelthimmel emporschwebt, muß hinter den Kulissen von vier starken Männern an einem Seilzug auf seine konstante Höhe gehievt und dann auch wieder abgeseilt werden. Mabel persönlich, Alt-Tempodromler Ettore und noch zwei weitere Mitarbeiter fassen mit an. Dennoch landet der zierliche Andrej die ersten Male fast wie ein Kartoffelsack. „Ich hab Angst“, meint Lena: „I vdrug... und plötzlich werden sie ihn fallen lassen.“

Am Samstag klappt die Probe schon besser. Teilnahmsvoll fragen mich alle nach dem Verlauf der taz-Fete am Freitagabend. Vor allem die Frauen aus der Gruppe hatten dorthin lieber doch nicht kommen wollen. Nach einem ausgedehnten Streifzug über die Wilmersdorfer Straße waren sie zum Tanzen zu müde gewesen. Wir berichten von unseren ungebetenen Gästen aus der Kreuzberger Szene. „Was für gewissenlose Menschen es doch gibt“, meint Lena erschüttert. Nach dem rauschenden Erfolg am Samstag abend wird die Stimmung ausgelassen. „Sicherlich haben Sie in diesen Tagen viel um uns gelitten und sehr um unsereren Erfolg gebangt?“ meint die strahlende „fliegende Astronautin“ Natascha anerkennend zu uns. Die Chefin erlaubt dem jungen Prometheus Andrej und Sascha, zum Tanzen dazubleiben. Zumal die beiden Männer nach dem Ende der taz-Disco nachts um vier noch ihre Gerüste abbauen mußten. Marina, Lena, Natascha, Rita, Andrej und Sascha wollten am Sonntag erst einmal ausschlafen, danach die taz besichtigen und in den Zoo. Abends gab es eine Führung durch die Ufa-Fabrik mit anschließendem Gelage. Am Montag früh um sechs müssen sich die sechs ein weiteres Mal auf dem Bahnhof einfinden. Und plötzlich sind sie dann wieder in Moskau.

Barbara Kerneck