Die Verbeamtung der Revoluzzer

■ Während in Wien gleich mehrere Ausstellungen die Aktionisten als Avantgardekünstler feiern, regen sich die Frankfurter über Hermann Nitschs Berufung als Professor auf

Martina Kirfel

Kunst ist noch nie so sehr - ich sag‘ das jetzt ganz unbescheiden - im Leben aufgegangen, wie es bei meinen Sachen der Fall ist.“ Hermann Nitsch schreitet zur Lehraktion. „Jetzt zerquetsche ich die Weintrauben.“ - „Das löst Empfindungen aus, die das Raubtier in uns freilegen.“ Über Nitsch surrt eine Kamera. Vor ihm das Leben schlechthin: Tische mit Feigen, Orangen, Gewürzen, Fischen, Gedärmen und Hirnen. In bedächtiger Manier hat sie der Meister zerrissen, zermalmt, zerhackt, zermatscht und dann mit Blut übergossen. Zwischendurch ein Schluck Gespritztes. Das Blut fließt aus Reagenzgläschen, aus Plastikmeßbechern, wird aus Eimern gekippt. „Wenn die alten Kulte lächerlich geworden sind, müssen wir sie eben ersetzen.“ Das Blut rinnt von den Tischen, sammelt sich in Lachen auf der Pappabdeckung. Die Besucher schnuppern an herumgereichten Gewürzen. „Das Exzesshafte ist für mich, wie wenn ein Staudamm bricht.“ - „Ich möcht‘ Sie bitten, die abgeklebten Flächen nicht zu betreten.“ - „Einen Becher Schleim noch bitte.“

Dann gibt es, wie mehrfach angekündigt, Orgiastisches. In priesterlichem Schwarz tritt der Meister, das Messer hinter dem Rücken, vor eine Leinwand. Die Leute stehen auf den Stühlen. Er reißt das Tuch herunter: „Das Wichtigste ist für mich, daß der Tierkadaver das ist, was er ist. In diesem Fall ein geschlachtetes und nachträglich gekreuzigtes Schaf.“ Dann dürfen wir mitmachen. Wer will, bekommt ein Reagenzglas voll Blut und darf es in das Schaf gießen. Die Leute stehen an. Bei frenetischer, selbstkomponierter Musik vom Tonband füllt Nitsch Gedärme in das Schaf, schüttet Blut nach, reißt sie wieder heraus. „Mein Theater ist ein lebensbejahendes Theater“, und stopft alles wieder in den Kadaver zurück. Seinen Jüngern empfiehlt er zum Schluß sein neuestes Buch: für 60 Mark Orgien und Mysterien zum Selbermachen - nach Gebrauchsanweisung des Meisters.

Zu dieser Lehraktion im März 1987 kamen an die 200 Leute in die Wiener Sezession. Fast tausend waren es in diesem März bei der Eröffnung der Ausstellung Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus, Wien 1960 bis 1965. Die erste historische Gesamtschau der „Wiener Aktionisten“ zeigte im Museum für angewandte Kunst Werke von Hermann Nitsch, Otto Mühl, Günter Brus, Adolf Frohner, Alfons Schilling und Rudolph Schwarzkogler. Zuvor war die Ausstellung bereits im Ausland gezeigt worden: in Kassel und Winterthur.

Zur Vernissage der einstigen „enfants terribles“, der „Blutspritzer“, „Schlächter“ und „Pornographen“ der sechziger Jahre ist das gesamte Wiener Yuppie- und Intelligenzlertum auf den Beinen. Und alle, die sich dazurechnen. In Wolken französischen Parfums schieben sich die Massen vorbei an den blutgetränkten Schüttbildern, an den blutigen Bahren, vorbei an den Fotodokumenten mit den rituellen Selbstverstümmelungen und Selbstauslöschungen. Das Publikum fühlt sich wohl. „Jetzt ist es aus mit ihnen. Jetzt hängen sie im Museum“, sagt Christian Reder, ein Wiener Hochschullehrer, den ich im Gewühl treffe. Die Aktionen der Aktionisten - archiviert und katalogisiert - sind Objekte der Kunstwissenschaften geworden. Vorbei die Zeiten, da Wiener Polizei bei exklusiven Ausstellungseröffnungen die Künstler und ein Dutzend waghalsiger Besucher überwachte, vorbei die Zeiten, da Nitsch und Mühl wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ ins Gefängnis mußten. „Nur die Frankfurter regen sich heut‘ noch auf“, bemerkt ein Wiener Kulturredakteur mit einem Lächeln, das seine ganze Verachtung gegenüber dem teutonischen Hinterwäldlertum ausdrückt.

An einem Werktag ist die Ausstellung fast leer. Im riesigen Zentralraum hängt eines der großen Schüttbilder von Hermann Nitsch: Rote Farbe ist in vielfacher Abtönung vom oberen Bildrand nach unten geflossen, rote Rinnsale, rote Fließspuren, rote Spritzer, rote Seen: „Das Beschütten von Flächen wurde zu einem Grundritual all meiner Aktionen“ (Nitsch 1961). Nitsch begreift diesen Vorgang als ein „litaneihaftes, durch Schaumalen sich äußerndes Spielgeschehen“ seines Orgien Mysterien Theaters.

Aus gut 20 Meter Entfernung - so weit kann man Gott sei Dank zurücktreten - entfaltet die neun Meter breite und zwei Meter hohe Leinwand den Reiz eines schönen Zufallprodukts. Daneben aggressiv Tachistisches von Adolf Frohner, ebenfalls im Großformat. Auch Frohners Materialbilder sind zu sehen: „Man muß die Dinge mit Feuer aneinanderkleben, sie verbinden, vergewaltigen und schänden, bis daß sie im Chor schreien“ (Frohner 1961).

Daneben Gerümpelstrukturen von Otto Mühl: „der anblick des verfallenden, verrosteten, verdreckten materials weckt religiöse gefühle in mir“ und „die sauberkeit ist mir äußerst verdächtig, sie ist die tarnung des dreckes und der impotenz“, schreibt Mühl 1962. Im Zentralraum eines seiner großformatigen Ölbilder, ein überdimensionales, in wilder Pinselstrichkultur flackerndes Kreuz. Selbstverstümmelung

Das Überwältigende der monumentalen Formate und des tachistischen Furors werden im diffusen Licht der Hallen Wände und Böden changieren in Weißgrau - gebrochen. Kühle Distanz ist das Resultat solcherart dem Entstehungsprozeß entrückter Präsentation. Gefahrlos kann der Besucher an den Eruptionen einstiger gewaltträchtiger Befreiungsakte vorbeiflanieren. Da hängen - Schwarz-Weiß und überlebensgroß - Schwarzkoglers Männerakte, statt Penis ein großer Fischkopf. Aus seinem klaffenden Maul quellen Mullbinden. Die monumentalen Fotos haben sich längst vom Prozeß der Aktion gelöst, sie präsentieren starre Posen.

Schön schrecklich, schrecklich schön wälzt sich Günter Brus in weißem Farbstaub, glitscht naß in weißen Draperien durch weißen Farbschlick, windet sich, kauert schließlich als weißmonochromes Knäul, als undifferenzierbare Masse aus Lumpen, Fleisch und Farbe im Bildmittelpunkt, Ton in Ton die Buntabzüge, mit Weichzeichner.

Brus‘ Fotoserie einer rituellen Selbstverstümmelung von 1964 ist eine Ausnahme: Über seinem weißen Kopf verläuft eine schwarze Naht, sie verlängert sich über den ganzen Körper - ein notdürftig zusammengenähter Brus läuft durch die Straßen Wiens.

Etwas weiter hängt Altbekanntes von Nitsch: Schon 1962 sieht man ihn im gekreuzigten Schaf wühlen und Blut schütten, ganz so, wie er es heute - mehr als 25 Jahre danach - immer noch macht. Der einzige Unterschied: Der junge Nitsch war bartlos, schlank und trug Weiß. Am Ende der Aktion von 1962 liegt er, erschöpft und glücklich lächelnd, in Lachen von Blut auf einem Bett, bedeckt von Schleim und Gedärmen.

„Ich bin gern mit jungen Leuten zusammen. Ich lehre gern“, sagt Nitsch. Wir sitzen im Cafe Korb. Nitsch, in priesterlichem Schwarz und mit graumeliertem Rauschebart, hat nichts von einem Menschenfresser. Eher wirkt er wie eine Mischung aus Landpfarrer und Oberammergauer Herrgottschnitzer. „Ich bin unpolitisch“ (Nitsch)

In den Bart lächelnd bemerkt er: „Die Städelschule läßt nicht nach. Die wollen mich.“ Daß da noch die Unterschrift eines Ministers fehlt, scheint ihn wenig zu stören. „Mitte April beginnt meine Lehrtätigkeit“, sagt Nitsch. Schon dreimal ist er an der Städelschule Gastprofessor gewesen, jetzt geht's um die „Dauerstellung“, sprich Beamtung. Sein künftiger Lehrstuhl: Interdiziplinäre Kunst.

Was er mit den „jungen Leuten“ machen will, frage ich ihn. „Die Disziplin Gesamtkunstwerk lehren.“ Das bedeutet für Nitsch „eine Aufarbeitung im gesamten Kunstbereich“, „viel Musik machen und natürlich Malerei, ganz klassisches Aktzeichnen, durchaus klassische Disziplinen lehren“ und die „gesamte Entwicklung der Kunst aufrollen“. Aktionen möchte er vielleicht auch machen, wenn es „nicht tatsächlich so ist, daß die Räumlichkeiten der Schule überfordert sind“. Das klingt weder revolutionär noch umstürzlerisch. „Ich bin unpolitisch“, sagt Nitsch. „Meine Themen sind zeitlos.“

Der Aufbruch der frühen sechziger Jahre ist damit endgültig vorbei. (Damals schrieb Mühl voller Elan über den aktionistischen Werkprozeß: „Da ist dann die Hölle losgelassen und ich tobe wie ein Flugzeugmotor. Ich vernichte die Fläche, die herrlich weiße, und damit die alte Ordnung, die Welt...“) Otto Mühl etwa, dessen Aktionen sich immer durch Witz und Farbenfreude vom rituellen Ernst der Nitsch-Orgien unterschieden, herrscht heute in autoritärem Stil über seine mehrere hundert Personen zählende Kommune auf Gomera. Die Menschen dort tragen Nummern entsprechend ihrer Platzierung in der Kommunen-hierarchie. Derweil verharrt Nitsch, die zweite Guru-Gestalt der Wiener Aktionisten, mit breiter Jüngerschaft in der totalen Stagnation. Die nahezu seit 30 Jahren identischen Szenenabläufe haben sich lediglich in der Zeit gedehnt, aus den kurzen Aktionen sind „Passionsspiele“ geworden, die drei Tage und drei Nächte dauern. Verbeamtung

Nitsch versteht seine Blutorgien als „Abreaktionsspiele“ verdrängter Sexualität, verdrängter Sadismen. Im Kontext der sechziger Jahre durchaus noch als Revolte begreifbar, ist Nitschs stark am Katholizismus orientierte Kunst heute schlicht reaktionär: Die Tötung des Lamms, damals vielleicht ein Befreiungsakt vom Vater, vom Diktator, vom Gott, dient heute ganz wie die Rituale traditioneller Religionen nicht der Veränderung, sondern der Stabilisierung. Nitschs „Abreaktion“ - in die Permanenz verlängert - ist eine Funktion der Erhaltung des Status quo. Seine Kunst, durch Ritualisierung auf Stagnation festgeschrieben, hebt sich selbst auf.

Unverständlich daher, warum sich Frankfurter Konservative über Nitsch aufregen: Es ist doch nichts weiter geschehen, als daß ein Aktionist, dessen ursprünglich aus der Kritik an der Wirklichkeit entwickelte Remythisierung regressiv geworden ist, ganz bieder die Verbeamtung anstrebt. Nicht zu Zeiten der Revolte, sondern zu Zeiten der postmodernen Restauration stehen deshalb einige Aktionisten - allen voran Nitsch - auf dem Zenit ihres gesellschaftlichen und kommerziellen Erfolgs. Nitschs auf ein „Finale des Leidens“ angelegte pseudo-kathartischen Rituale finden den Beifall von New-Age-Affizierten und von Leuten, die für Rückzugsideologien anfällig sind. Aber nicht nur das. Wenn Nitsch, wie im März diesen Jahres, in Wien an drei Stellen zugleich ausstellen kann, dann auch deshalb, weil derjenige Bourgeois, der durch nichts mehr zu „epatieren“ ist, eine Schwäche für ihn entwickelt hat. Aus zynischer Distanz goutiert er Nitschs Ikonen und Aktionen menschlicher Destruktion - als ästhetisches Ereignis.

Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus - Wien 1960-1965, österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, bis 15.Mai. Der Katalog kostet 390 ÖS, die Fotodokumentation 95 ÖS, macht zusammen etwa 72 Mark.