„Kein Grund, die Schotten für die Polen dicht zu machen“

Unter rot-grünem Senat keine Visumpflicht für Polen / Interview zum polnischen Ost-West-Handel mit dem Chef der Senatskanzlei, Dieter Schröder  ■ I N T E R V I E W

taz: Am Wochenende wurden rund 5.000 polnische Händler registriert. Zum 1. Mai will Bonn die umstrittene Zwangsumtauschregelung für Polen einführen. Was will der neue Senat?

Dieter Schröder: Die Leitlinie des Senats muß und wird von den Tatsachen und den historischen Verpflichtungen ausgehen, die jede deutsche Regierung in diesem Fall zu bedenken hat. Das heißt erstens: Von Berlin aus betrachtet, ist Polen der nächste Nachbar. Zum anderen geht uns das, was sozusagen hinter unserem Garten passiert, eine ganze Menge an: Die Situation, wie sie sich heute in Polen darstellt, ist zu einem nicht unerheblichen Teil Ergebnis einer langen Geschichte, die nicht ohne deutsche Mitwirkung erklärt werden kann. Wenn sich jetzt die Verhältnisse in Polen verändern, verbessern, gerade dann sollte man die Entwicklung dort fördern und nicht abblocken. Die Bonner 50 -Mark-Regelung lehnen wir deshalb ab. Man kann nicht 20 Jahre Freizügigkeit fordern, und dann, wenn sie plötzlich da ist, die Schotten einfach dicht machen. Berlin als offene Stadt darf die alliierte Anweisung (BK/O), die die Polen hier von dem vorgesehenen Zwangsumtausch ausnimmt, nicht ändern.

Die SPD hat immer Wert auf die Rechtseinheit mit dem Bund gelegt. Der Sonderstatus in diesem Fall also als besondere Chance?

Bis 1967 hat diese Rechtseinheit bestanden. Ein Pole oder Sowjetbürger brauchte für die Reise nach West-Berlin ein Visum für die Bundesrepublik. Bereits seit 1958 haben die Ostblockstaaten es abgelehnt, ihren Staatsangehörigen ein einheitliches Visum auszustellen. Mitte der sechziger Jahre führte das dazu, daß es hier keine Wirtschaftskontakte mehr gab und keine Besuche mehr stattfanden. Da wurde diese Sonderregelung eingeführt. Würden wir also die Anordnung aufheben bzw. die Alliierten darum bitten, würden wir der Stadt mehr schaden als nützen.

Wird dann auch der Polenmarkt legalisiert?

Bei den Märkten sehen wir auch, daß diese Frage in den letzten vierzehn Tagen an Dramatik gewonnen hat. Sicher werden wir darüber nachdenken, wie wir lebensmittelrechtlichen und hygienischen Mindestanforderungen gerecht werden können. Um das alles aber konzeptionell zu entwickeln, brauchen wir Zeit und keine Schnellschüsse.

Hat der Senat angesichts der ausländerfeindlichen Tendenzen in der Stadt soviel Zeit?

Vernünftige Entscheidungen, die nicht wie in Bonn mit der heißen Nadel gestrickt sind, brauchen Zeit, ich denke bis zur Sommerpause. An den Polen geht Berlin nicht zugrunde. Früher sind aus dieser Gegend auch die Leute gekommen und haben ihre Ware auf dem Markt feilgeboten. Was hier kommt, ist keine polnische Invasion, sondern das Elend Mitteleuropas, das vor den Augen der Berliner ausgebreitet wird. Zu restriktiven Maßnahmen sehe ich keine Veranlassung. Wir bemühen uns vielmehr, diese ganze Geschichte zu entemotionalisieren. Dies auch vor dem Hintergrund, daß sich am 1. September 1989 der Tag jährt, an dem mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann. Diesen Tag will der neue Senat würdiger als bisher begehen.

Interview: bim