Die Abwesenheit des Malers

■ Zum Van-Gogh-Spektakel in Arles - fünf Ausstellungen 101 Jahre nach des Malers Ankunft im Städtchen

Stefan Koldehoff

Arles im Frühling 1989 - eine Stadt im Van-Gogh-Fieber. Reproduktionen seiner Gemälde dekorieren zwischen Brillengestellen und Nähmaschinen, inmitten von Cremeschnitten und Trachtenpuppen, alle Schaufenster der südfranzösischen Kleinstadt. Großformatige Plakate weisen an allen Ladentüren, in allen Banken und öffentlichen Gebäuden darauf hin: Man begeht den 100. Jahrestag der Ankunft Vincent van Goghs in der Provence - eigentlich ein Jahr zu spät.

Denn schon am 20.Februar 1888 kam der Maler nach 16stündiger Zugfahrt aus Paris im verschneiten Arles an, um sich im Gasthaus Carrel einzumieten. 444 Tage sollte er in der Stadt verbringen, bevor er schließlich im Mai des folgenden Jahres freiwillig in die Nervenklinik Saint-Paul -de-Mausole im nahegelegenen Saint Remy ging. Das Licht des Südens, das er schon auf den in Paris gesehenen Bildern japanischer Künstler bewundert hatte, wollte der Maler aus dem Norden in Arles suchen. Was er fand, war die völlige Ablehnung durch die Arleser Bevölkerung, die ihm mit wenigen Ausnahmen nur Ignoranz und sogar offenen Haß entgegenbrachte.

Nach Arles wollte van Gogh die Malerfreunde aus Paris in sein „Atelier des Midi“ einladen, das im mit finanzieller Hilfe des Bruders Theo gemieteten „Gelben Haus“ an der Place Lamartine entstehen sollte. Nur Paul Gauguin kam und zerstritt sich bald heftig mit van Gogh. Dieser schnitt sich das rechte Ohrläppchen ab. Eine Petition von 30 Arleser Bürgern sorgte daraufhin für die Internierung des ihrer Meinung nach „geisteskranken und gemeingefährlichen“ Malers im Krankenhaus im Hotel Dieu. Trotzdem entstanden in den 15 Monaten in Arles fast 350 Zeichnungen und Gemälde.

Das Gasthaus Carrel und das Maison Jaune fielen 1944 den Bomben zum Opfer, und wo früher einmal das verrauchte Cafe de Nuit mit seinem Billardtisch war, steht heute der größte Supermarkt der Stadt. Das Hotel Dieu gibt es noch. Es heißt heute Espace van Gogh und wird von der Stadtverwaltung zum Kulturzentrum umgebaut. Vor seinem bereits fertiggestellten Ostflügel windet sich in diesen Tagen eine Menschenschlange, die bis in den einst von van Gogh gemalten großen Innenhof mit seinen Blumenbeeten hineinreicht. Van Gogh ist mit seinen inzwischen unbezahlbaren Bildern in das Haus zurückgekehrt, in dem er 100 Jahre zuvor in eine Einzelzelle eingesperrt war. Die Ausstellung von 36 seiner in Arles entstandenen Werke, von einigen seiner Briefe und mehrerer Werke von Paul Gauguin soll dort den Höhepunkt der Hundertjahrfeier bilden.

Zusammengetragen hat diese Zeichnungen und Gemälde in der ganzen Welt der Van-Gogh-Experte Ronald Pickvance, der seinerzeit schon für die beiden großen Retrospektiven im New Yorker Metropolitan Museum of Art verantwortlich zeichnete. Der Versicherungswert der einzelnen in die Provence geflogenen Werke reicht an die 100-Millionen-Mark-Grenze, entsprechend streng sind die Sicherheitsvorkehrungen. Streifenwagen patrouillieren Tag und Nacht in der Fußgängerzone um das Ausstellungsgebäude, und ohne ausführliche Leibesvisitation darf nach stundenlangem Schlangestehen niemand die alarmgesicherten Ausstellungssäle betreten. Die Van-Gogh-Ausstellung ist das erste Ereignis dieser Art in der Stadt. Man ist sichtlich nervös, darf und will sich keine Pannen erlauben.

Was den Besucher in den drei schlecht ausgeleuchteten Innenräumen erwartet, enttäuscht zunächst. Es ist Pickvace nicht gelungen, van Goghs Hauptwerke der Arleser Periode an den Ort ihres Entstehens zurückzubringen. Man vermißt das berühmte gelb-blaue Nachtcafe, findet kein Bild der als La Berceuse in die Kunstgeschichte eingegangenen Madame Roulin. Die Ausstellung zeigt keines der Sonnenblumenbilder, nicht ein einziges der so wichtigen Selbstbildnisse des Malers. Das Gelbe Haus ist nur als Aquarell, Vincents Schlafzimmer und die Zugbrücke von Langlois gar nur als kleinformatige Federzeichnung präsent.

Das Fehlen dieser Hauptwerke macht aber gleichzeitig den Reiz der eher kleinen Ausstellung aus. Denn die an ihre Stelle getretenen weniger bekannten Bilder zeigen eindinglich, warum van Gogh zu recht als der Überwinder des Impressionismus und neben Cezanne als einer der Väter der modernen Kunst des 20.Jahrhunderts gilt. Pinselführung, pastoser Farbauftrag und Raumaufteilung nehmen hier schon die Stilmittel des Expressionismus vorweg und geben van Gogh die Möglichkeit, seine Theorie der Komplementärfarben auszuleben: Gelbe Felder und orangefarbene Dächer leuchten vor blauem Himmel, roter Klatschmohn blüht inmitten grüner Wiesen.

Die elf ausgestellten Portraits einiger weniger Arleser Freunde zeigen am eindrucksvollsten die Entwicklung von der aus Paris mitgebrachten impressionistischen Malweise hin zu der, die sich in keine kunsthistorische Theorie zwängen läßt. van Gogh en face und meist vor einfarbigem Hintergrund. Physiognomie und Charakter der Dargestellten treten in den Vordergrund - nicht immer zur Freude der Portraitierten.

Das Portrait des Dr.Felix Rey, vom Moskauer Puschkin-Museum seinerzeit nicht für die New Yorker, nun aber für die südfranzösische Ausstellung freigegeben, hatte der Maler dem Arzt als Dank für dessen Behandlung persönliche Pflege geschenkt. Rey aber fühlte sich auf dem Bildnis mit grünem Bart und roten Haarsträhnen nicht getroffen und benutzte es als Ersatz für eine zerbrochene Tür in seinem Hühnerstall.

Die Bilderschau im Hotel Dieu wird durch eine Ausstellung im gegenüberliegenden Museon Arlaten thematisch ergänzt. Arles au temps de van Gogh bietet einen Erklärungsansatz für die völlige Ablehnung des Malers durch die Bevölkerung. In akribischer Kleinarbeit haben die Ausstellungsmacher unzählige Exponate zusammengetragen, die gemeinsam ein Bild vom Arles des ausgehenden 19.Jahrhunderts vermitteln. Trachten, Ansichtskarten und Gebrauchsgegenstände, Zeitungen, Stadtpläne und Möbel lassen erahnen, wie festgefügt und rückständig-traditionell die proven?ialische Gesellschaft ausgerichtet war, auf die van Gogh bei seiner Ankunft traf. Ein Gemälde, das den damaligen Kunstgeschmack repräsentiert, zeigt im Vordergrund einen jungen Beau, der unter dem grünen Dach des Waldes um die Dame seines Herzens wirbt, im Hintergrund eine idyllische Szene sich haschender Pärchen unter einem antiken Torbogen - Arkadien a la „Gartenlaube“.

Daß van Gogh mit seiner vergleichsweise chaotisch wirkenden Idee von der „reinen Farbe“ und seinen so ganz unromantischen Motiven aus dem täglichen Leben diesem Geschmack nicht entsprach, wird plausibel. Daß der Maler, der zusammen mit seinem Freund Miliet nachts durch die Bordelle am Rhoneufer zog und auf seine äußere Erscheinung nicht den geringsten Wert legte, auch den sicher fragwürdigen moralischen Ansprüchen dieser Gesellschaft nicht genügte, ist historisch nachzuvollziehen entschuldbar wird die Reaktion der Arleser dadurch nicht.

Ich bin überzeugt, daß auch die Arleser, die heute voller Ehrfurcht vor van Goghs Originalen stehen, ihn damals aus der Stadt gejagt hätten. Sie haben sich in dieser Beziehung in den letzten 100 Jahren nicht verändert“, meint Michele Moutashar. Als Konservatorin am städtischen Musee Reattu zeichnet sie verantwortlich für zwei weitere der insgesamt fünf Ausstellungen in Arles. Das Museum für zeitgenössische Kunst hat vier internationale Künstler zur Auseinandersetzung mit van Gogh nach Arles eingeladen und präsentiert das Ergebnis ihrer Arbeit jetzt zeitgleich zur großen Pickvance-Ausstellung, die die Ausstellungsmacherin als „Karrikatur des esprit fran?ais“ bezeichnet.

„Dieselben Leute, die heute van Gogh beklatschen, den sie vor 100 Jahren überhaupt nicht beachtet hätten, ignorieren meine Ausstellungen als neumodische Kapricen, ohne sie zu besuchen. Rien n'a pas change“, kommentiert sie und setzt dem im Musee Reattu die Triple Suite en jaune a la gloire de van Gogh des Franzosen Albert Ayme und das Gemeinschaftsprojekt L'absence von Alain Fleischer, Georges Rousse und Jochen Gerz entgegen. Ayme befaßt sich in den 27 großformatigen Leinwänden seiner drei Bildserien mit einem Briefzitat van Goghs, in dem der die Entstehung seiner Gelbtöne beschreibt. Durch die Übermalung verschiedenster Farbflächen mit Gelb versucht Ayme, diese Farbentwicklung nachzuvollziehen und erzielt dabei erstaunliche Ergebnisse: Farbflächen treten plastisch hervor, bekommen durch ihre Farbschatten Reliefcharakter.

„Arles, wo sind meine Bilder?“ fragt der in Berlin geborene Jochen Gerz auf seinen Fotocollagen polemisch über dem Bild eines Cafes im Südfrankreich von heute. Die Antwort ist bekannt: Bis auf einen einzigen, vor wenigen Jahren angekauften Brief an Gauguin besitzt die Stadt nichts, was noch an die Anwesenheit van Goghs erinnern könnte, schon gar kein Bild. L'Absence - Die Abwesenheit nennen Gerz, Alain Fleischer und Georges Rousse deshalb ihr Projekt, das zugleich Bestandsaufnahme und Vorwurf ist. Rousse hat noch vor der Renovierung die leergeräumten, trostlos kahlen Räume des Krankenhauses im Hotel Dieu fotografiert. In die beiden zwei mal zwei und zwei mal drei Meter messenden Bilder montierte er geometrische Formen und Körper - die Leere bleibt trotzdem.

Sie bleibt auch auf den Fotoobjekten von Alain Fleischer. „Ciel au dessus d'Arles“ - „Der Himmel über Arles“ stellt seinen Wolkenbildern schwarze Farbflächen mit Farbstrichen entgegen. Eine schmale Spiegelleiste verbindet beide Bildteile an ihrer unteren Seite, führt ins Nichts.

Dieser Leere, die durch die „Abwesenheit“ van Goghs in Arles entstanden ist, will Yolande Clergue mit ihrer Fondation Vincent van Gogh entgegenwirken. Ihre Ausstellung im Palais Luppe ist die fünfte und letzte zum Thema. Sie unterscheidet sich allerdings in ihrer Intention wesentlich. „Die anderen Ausstellungen sind im Mai beendet“, erklärt Yolande Clergue ihre Idee, „danach ist von van Gogh in Arles dann wieder nichts mehr zu spüren. Das wollte ich verhindern.“ Vor drei Jahren begann die zierliche Dame deshalb, sich an Künstler in aller Welt zu wenden, um sie um eine „Hommage an van Gogh“ zu bitten.

Der erste, an den Yolande Clergue sich mit der Bitte um Unterstützung wandte, war der in London lebende Nestor des abstrakten Expressionismus Francis Bacon. Bacon antwortete schon nach zwei Wochen, zeigte sich sehr angetan und gestaltete ein Ölgemälde nach van Goghs „Maler auf der Straße nach Tarascon“, das er der Stiftung schenkte. Künstler aus der ganzen Welt folgten seinem Beispiel, und so stapelten sich im Hause Clerque schließlich Bilder, die der Sammlung eines jeden Museums alle Ehre machen würden. Fernando Botero, David Hockney, Antoni Clave und Arman setzten sich in eigenen Bildern und Multiples mit van Goghs Strohstuhl auseinander. Roy Lichtenstein empfand in breiten Pinselstrichen den Sämann nach, Karel Appel verfremdete van Goghs Selbstportrait, Roland Topor beschäftigte sich mit dem abgeschnittenen Ohr, Robert Rauschenberg arbeitete in Stacheldraht.

Kompositionen wie Henry Dutilleux schickten durch van Gogh inspirierte Originalpartituren, Dichter Manuskripte und der in Arles geborene Courtier Christian Lacroix ein von ihm entworfenes Sonnenblumenkleid. Nach und nach kamen rund 100 Werke aus allen künstlerischen Bereichen zusammen. Im vergangenen Jahr stellte die Stadt auch endlich ein Gebäude am Rand der Innenstadt zur Verfügung und kommt auch für dessen Unterhalt auf. Wie Michele Moutashar ist allerdings auch Yolande Clerque skeptisch, was die Akzeptanz durch die proven?alische Bevölkerung betrifft. „Die meisten Bürger von Arles kennen noch nicht einmal die Namen Bacon, Lichtenstein, Hockney oder Botero - geschweige denn ihre Kunst“, meint sie, ist sich aber sicher, daß van Gogh Gefallen an ihrer Umsetzung seiner Idee gehabt hätte, viele große Künstler in Arles zu vereinigen. Das allerdings bestreitet Michele Moutashar energisch. Die Konservatorin hält die Art des Zustandekommens der Sammlung der Foundation schlicht für eine „catastrophe“ und beklagt: „Die großen blendenden Namen sollen nur darüber hinwegtäuschen, daß die ganze Aktion kein Konzept hat.“ - „Braucht sie auch nicht“, setzt dem Yolande Clergue entgegen, „ich will und kann den Künstlern keine Vorschriften machen. Sie sollen ausdrücken, was sie fühlen.“

Arles im Frühling 1989 - hundert und ein Jahr nach van Gogh. Noch stehen die Touristen Schlange, um seine Bilder zu sehen, die sich Mitte Mai wieder in alle Himmelsrichtungen verabschieden werden. Die vom Office de Tourisme unter Bürgermeister Camoin ins Leben gerufene Association des amis de Vincent van Gogh hat kurz vor den Kommunalwahlen bekanntgegeben, daß das Gelbe Haus an der Place Lamertine wieder aufgebaut werden soll. Arles, noch Mekka der Kunstfreunde, wird wieder französische Provence, in der es die zeitgenössische Kunst so schwer hat wie vor 100 Jahren.

Centenaire van Gogh a Arles:

van Gogh et Arles, bis 15.5. Espace van Gogh, Katalog 100S. mit 43 farb. Illustrationen. FF 100,-;

Arles au temps de van Gogh, bis 15.5. Museon Arlatan;

Triple Suite a la gloire de van Gogh, bis 30.4. Musee Reattu, Katalog 130S. mit 32 farb. Illustrationen, ff130,-;

L'Absence, bis 15.5. Musee Reattu;

Fondation Vincent van Gogh, Dauerausstellung im Palais Luppe, Katalog 120S., mit 45 farb. Illustrationen, FF100,-.